Lütau. „An apple a day keeps the doctor away“ – die englische Redewendung, auf deutsch „Ein Apfel am Tag, Arzt gespart“, stammt aus dem 19. Jahrhundert und wurde mittlerweile durch wissenschaftliche Untersuchungen bestätigt: Vitamine und Mineralstoffe, Pektin, Flavonoide und Carotinoide sind gesundheitsfördernd. Wird der Apfel jedoch zu Saft verarbeitet, gelte diese Weisheit nicht mehr, sagt Isabel Velke, Geschäftsführerin der Lütauer Süßmosterei.
In Lütau wird aus Äpfeln Saft gemacht: Im Herbst, wenn die Äpfel reif sind, bringen Obstbauern, aber auch private Gartenbesitzer ihre Äpfel zur Lütauer Süßmosterei am Katthof 4. Aber auch im Rest des Jahres wird gepresst – dann werden Lageräpfel angeliefert, die wegen kleinerer Stellen nicht mehr in den Verkauf gehen, sich aber gut zu Saft verarbeiten lassen.
Zuckerfreie Limonaden sind laut Score besser als purer Saft
Mehr als 800.000 Liter Apfelsaft und -schorlen entstehen so jedes Jahr, hinzu kommt der Saft weiterer Früchte wie Rhabarber, Birnen oder auch Orangen. Das große Problem von Velke und anderen Saftproduzenten ist ausgerechnet ein Kennzeichnungssystem, das bei der gesunden Ernährung helfen soll: der Nutri-Score.
Der Nutri-Score stammt aus Frankreich. Ende 2020 ist er in Deutschland und vier weiteren EU-Staaten eingeführt worden – auf freiwilliger Basis. Laut Bundesernährungsministerium haben sich in Deutschland mittlerweile 660 Unternehmen mit 1030 Marken für die Nährstoffampel registriert. Die Lütauer Süßmosterei ist nicht darunter: „Unser Apfelsaft würde ein C erhalten und wäre damit im Nutri-Score-System nährwerttechnisch schlechter bewertet als etwa eine Cola light“, sagt Velke.
Die Cola erhielte, weil zuckerfrei, die Bewertung B. Im Apfelsaft stecke aber kein zusätzlicher Zucker – sondern nur der sowieso in der Frucht enthaltende Fruchtzucker, in der Cola hingegen Zuckerersatzstoffe. Velke: „Die Großen der Lebensmittelindustrie gewöhnen den menschlichen Gaumen nicht an weniger Süße, sondern nutzen fragwürdige Ersatzstoffe.“ Und würden dafür auch noch belohnt: Durch die farbliche Kennzeichnung der Nährstoffampel erscheint damit die braune Brause gesünder als der Saft.
Nicht alle Nährstoffe fließen in die Bewertung ein
Bewertet werden mit dem Ampel-System nur verarbeitete Lebensmittel: Obst, Gemüse oder Gewürze, aber auch Kaffee oder Tee werden nicht bewertet. Für Getränke gilt eine eigene Bewertungsskala, in der der Zuckergehalt stärker ins Gewicht fällt. Die fünfstufige Skala der Nährstoffampel beginnt mit einem „A“ auf dunkelgrünem Feld für die günstigste Nährwertbilanz: Bei den Getränken ist Wasser das einzige Getränk mit dieser Kennzeichnung. Ein grünes „B“ gibt es für zuckerfreie Limonaden, das gelbe „C“ gilt für Säfte und selbst mit Wasser gemischte Schorlen, ein orangefarbenes D für alkoholfreies Bier und das rote „E“ für die klassische zuckerhaltige Cola als Beispiel für die ungünstigste Nährwertbilanz.
Doch nicht alle Nährstoffe fließen in die Bewertung ein, und nicht alle Getränke werden bewertet: Bier und Wein mit mehr als 1,2 Prozent Alkohol sind von der Kennzeichnung grundsätzlich ausgenommen. Milch und Milchprodukte sowie Pflanzendrinks wie Hafer- oder Sojamilch zählen nicht zu den Getränken, sondern werden wie Lebensmittel berechnet.
Vergleich von Produkten einer Kategorie
Velke lehnt die Nährstoffampel jedoch nicht gänzlich ab, sie sei aber ein zu einfaches System, um komplexe Zusammenhänge und Wechselwirkungen darzustellen: „Der Nutri-Score hat einen großen Mehrwert, wenn es darum geht, Produkte innerhalb einer Kategorie zu vergleichen.“ Anders als die Nährwerttabelle, die zumeist auf der Rückseite steht, wird der Nutri-Score auf der Vorderseite des Produkts abgebildet.
So können etwa Müslis, Marmeladen oder Ketchup miteinander verglichen werden. Und: Hat sich ein Unternehmen mal für den Nutri-Score entschieden, muss es ihn nach einer Übergangsfrist für alle Produkte anwenden. Zu den Vorreitern in Deutschland gehören etwa Bonduelle, Iglo, McCain, Nestlé und Handelsriese Rewe, der die Kennzeichnung auf allen Eigenprodukten platziert hat.
Säfte sind keine Durstlöscher
Genau das macht Velke Sorgen: Der Handelskonzern könnte seine Lieferanten auffordern, ebenfalls den Nutri-Score einzuführen. Die Süßmosterei hat aber keine Chance, bei den aktuellen Regeln, eine gute Bewertung zu erhalten, darin ist sich Velke mit den anderen Saftherstellern einig. Sie möchten deshalb, dass Säfte wie Milch als „liquid food“ – also ein flüssiges Lebensmittel bewertet werden. „In unseren Säften ist nichts, was nicht auch schon in der Frucht enthalten ist“, sagt die Unternehmerin.
Der Zusatz von Zucker ist beim Fruchtsaft sogar verboten. Dem entgegnen die Ampel-Befürworter, dass Verbraucher nicht nur ein Glas, sondern gleich eine ganze Flasche trinken würden. Velke widerspricht: „Niemand ist auch gleich fünf Äpfel auf einmal.“ Meist werde ein Glas getrunken, anschließend lande die Flasche wieder im Kühlschrank. Säfte, so Velke, würden im Nutri-Score-System als Erfrischungsgetränke behandelt: „Ein Fruchtsaft ist aber ebenso wenig als Durstlöscher geeignet wie Milch.“
Auch die Biobranche übt massive Kritik am Nutri-Score
Kritik an der Nährstoffampel kommt auch aus der Biobranche: Inhaltsstoffe wie mehrfach ungesättigte Fettsäuren, ein hoher Ballaststoffgehalt und sekundäre Pflanzenstoffe würden in der Bewertung nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt, obwohl sie ein wesentlicher Bestandteil gesunder und ausgewogener Ernährung seien.
Zudem sei bei Bioprodukten, anders als bei konventionell hergestellten Lebensmitteln, der Einsatz synthetischer Zuckerersatzstoffe streng reglementiert. Sie schneiden deshalb beim Nutri-Score immer schlechter ab. Wer konsequent nur zu Produkten der Kategorie A greift, dazu zählt etwa auch weißes Toastbrot, ernährt sich deshalb nicht unbedingt gesünder.
Verbraucherschützer fordern verpflichtende Einführung der Nährstoffampel
Die Verbraucherzentrale Hamburg hingegen befürwortet den Nutri-Score als einfaches Kennzeichnungssystem, über das leicht Zucker- und Fettfallen erkennbar seien. Die Kritik der Biobranche kontern die Verbraucherschützer mit dem Hinweis, dass es ja zusätzliche Labels für Bio-Produkte gibt.
Und bei der Zahl von Zusatz- und Ersatzstoffen, die sich in verarbeitenden Lebensmittel mit gutem Nutri-Score finden, empfehlen die Verbraucherschützer den Blick in die Zutatenliste. Aus ihrer Sicht seien nur so ernährungsbedingte Krankheiten wie Übergewicht oder Diabetes in den Griff zu bekommen. Sie fordern deshalb die europaweite, verpflichtende Einführung des Systems.
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