Willkür: Sechs Ausreisenanträge und eine Kirchturmbesetzung - dann durfte Familie Scherling in den Westen

Aus der Altstadt sind sie heute mit ihrem beliebten Geschäft "Der Topf" nicht mehr wegzudenken. Doch der Weg von Karin (62) und Siggi (76) Scherling nach Lauenburg war beschwerlich. Beide stammen aus der ehemaligen DDR und kamen erst kurz vor dem Mauerfall in den Westen. Zwei Jahre waren die Mitarbeiter der Staatssicherheit (Stasi) ihr ständiger Begleiter - sichtbar und unsichtbar. Zwei dicke Leitz-Ordner sind die Stasi-Akte des Paares, das auf Usedom lebte und ausreisen wollte.

In Mönchow auf Usedom hatte sich Familie Scherling, zu der auch drei Kinder gehören, eine Töpferei aufgebaut. "Uns ging es eigentlich gut, wir hatten ein schönes Haus, machten gute Geschäfte, hatten einen Trabi und einen Wartburg und sogar ein kleines Segelboot. Wir lebten nur drei Minuten vom Oderhaff entfernt", erinnert sich Siggi Scherling. Er war ehrenamtlicher Bürgermeister von Mönchow, als er sich mit den landwirtschaftlichen Betrieben anlegte, die Flüssigkeit ihrer Mais- und Rüben-Silage ins Erdreich sickern ließen. "Das war eine Gefahr für unser Trinkwasser, das wollte ich nicht hinnehmen", berichtet Scherling. Bis hin nach Rostock beschwerte er sich damals - erfolglos. Als der heute 76-Jährige nicht mehr weiter wusste, stellte seine Familie 1986 einen Ausreiseantrag. "Da mussten wir dann zum ersten Mal bei der Abteilung Inneres antreten."

Binnen drei Jahren werden fünf Ausreiseanträge der Familie abgelehnt, ehe am 28. April 1989 die "endgültige Ablehnung" des Ausreisegesuchs zugestellt wird. Einen Tag später nahmen Karin und Siggi Scherling ihre drei Kinder, packten warme Decken und Verpflegung ein - und kletterten auf Usedom auf den Kirchturm. Von 8 Uhr an läutete Scherling die Glocken ununterbrochen, zwei mit "Freiheit" beschriftete Windschutzplanen hing er aus den Schallöffnungen des Turms, 200 Papierflugzeuge mit der Aufschrift "Ausreise für Familie Scherling" warf die Familie vom Turm. "Eine Republikflucht mit drei Kindern kam für uns nicht in Frage", sagt Scherling. Nach fünf Stunden gab die Familie die Aktion auf Vermittlung des Pastors auf. Sie durften einen neuen Ausreiseantrag stellen.

Die Stasi, die die Familie observierte, führte die Scherlings unter dem Namen "Ketzer". Mitte Mai 1989 legt ein hoher Stasi-Offizier "Ketzer raus" in der Stasi-Akte fest. "Die Stasi forderte jede Menge Informationen von uns. Sogar ein Gutachten, dass die Flöten unserer Kinder, die sie mitnehmen wollten, kein Kulturgut sind, mussten wir erstellen. Außerdem wurde festgelegt, an wen wir unser Haus und den Firmen-Trabi verkaufen sollten", erinnert sich Scherling.

Zum 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1989 erhielt die Familie ihren "Marschbefehl", musste aber noch die Feierlichkeiten abwarten. Zwei Tage später konnten sie ihre Ausweise gegen Ausreisedokumente abgeben - am 10. Oktober starteten sie in ihr neues Leben im Westen.

Die Reise führte nach Frankfurt am Main, wo nach englischer Kriegsgefangenschaft ein Bruder von Siggi Scherling eine neue Heimat gefunden hatte. Schon am 1. November konnte Scherling, ein studierter Ingenieur, als Bauleiter beim Bau des Regensburger Uni-Klinikums anfangen. Dann fiel die Mauer. Scherling: "Wir waren letztendlich froh, dass wir schon weg waren, denn es wäre eine sehr schwierige Entscheidung für uns gewesen, was wir unter den neuen Bedingungen der geöffneten Grenzen gemacht hätten. Schließlich hatten wir jahrelang auf eine Ausreise gehofft."

Die Familie blieb im Westen, kam im Mai 1990 nach Lauenburg. An der Elbstraße 89 fanden die Scherlings ein sanierungsbedürftiges Haus für 49 000 D-Mark. Unten ist heute die Töpferei untergebracht, oben die Wohnung, der Garten schmiegt sich an den Schlossberg. "Zurückkehren kam für uns nicht in Frage, die Töpfer im Osten haben ja fast alle Umschulungen absolviert", sagt Siggi Scherling.

Später sehen Karin und Siggi Scherling ihre Stasi-Akten ein. Sechs Mann waren auf die Familie angesetzt. "Von denen konnte uns aber keiner schaden, obwohl man immer wieder den Befehl ausgegeben hatte, dass uns eine strafbare Handlung nachzuweisen sein müsste", berichtet Scherling. Folge wären mindestens eineinhalb Jahre Gefängnis gewesen. Doch soweit kam es nicht, in Lauenburg baute sich die Familie ihr neues Leben auf.