Experiment: Behinderte und Nichtbehinderte machen sich gemeinsam auf den Weg

"Es ist normal, dass gesunde Menschen nicht die Perspektive eines Rollstuhlfahrers haben und daher oft gedankenlos sind", sagte Susanne Salamon vor einem Monat gegenüber unserer Zeitung. Damals wollten wir von der Sprecherin der Interessengemeinschaft für "Behinderte Menschen in Lauenburg" wissen, wo gehbehinderten Menschen in der Stadt Steine in den Weg gelegt werden - im wahrsten Sinne des Wortes. Was am Anfang nur eine Idee war, stand nun als Angebot: Die Stadt für eine Stunde im Rollstuhl selbst erfahren. Wie etwa 20 andere Lauenburger auch, startete Redakteurin Elke Richel einen Versuch.

Ein neuer Blickwinkel

Ich gebe zu, ein bisschen mulmig ist mir schon. "Hier sind die Bremsen, nicht zu weit zurücklehnen und lieber kein Risiko eingehen", gibt Nikolaus Noack erste Anweisungen. Der Mittvierziger leidet an Multipler Sklerose und ist bis auf kurze Zeit am Tag auf seinen Rolli angewiesen. Ich fühle mich wie eine Fahrschülerin, als ich die erste Runde um den Brunnen an der Kreissparkasse drehe. Die Lauenburger Lokalpolitiker Martin Scharnweber und Bernd Dittmer scheinen den Bogen bereits besser raus zu haben, aber auch ich gewöhne mich langsam an meinen fahrenden Untersatz. Unsere bunt gemischte Gruppe erntet ungenierte Blicke. Ich bin nicht sicher, ob das an unserer Ungeschicklichkeit liegt, oder ob Rollstuhlfahrer der Neugier ihrer Mitmenschen auf besondere Weise ausgesetzt sind.

Nikolaus ist inzwischen zufrieden mit uns, wir machen uns auf den Weg Richtung Schloss. Die Räder meines Rollis bewege ich mit reiner Muskelkraft, selbst auf glatter Strecke zieht das mächtig in den Oberarmen. "Immer auf den Weg achten", rät unser Fahrlehrer und zeigt auf einen frischen Haufen Hunde-Kot. Schon als Fußgängerin ärgere ich mich über solche "Tretminen". Als Rollifahrerin muss ich würgen, wenn ich daran denke, was passiert, wenn ich mitten hindurch fahren würde: Nach einer halben Radumdrehung hätte ich die Scheiße in der Hand. Nikolaus scheint meine Gedanken zu erraten: "Deshalb habe ich immer Handschuhe an."

Zum ersten Mal fällt mir auf, dass die Lauenburger Verwaltung im Schlossgebäude nur über einen stattlichen Berg zu erreichen ist. Und der ist für mich als Rolli-Fahrerin kaum zu erklimmen. Zudem schüttelt mich das bucklige Pflaster ordentlich durch. Bürgervorsteher Bernd Dittmer denkt an seine lädierte Schulter und bricht an dieser Stelle das Experiment ab. Ich schaffe nur die Hälfte des Berges, dabei hatte ich bisher gedacht, dass die Verwaltung im Schloss zumindest im Erdgeschoss auch für Rolli-Fahrer erreichbar ist.

Bergab verlässt mich der Mut und das Vertrauen in die Bremsen meines Gefährts. "Keine Angst, die sind sicher", beruhigt mich Manuel Zingerle. Seine Firma Medica hat die Rollstühle für das Experiment zur Verfügung gestellt und auch er nimmt sich gern die Zeit, uns Rolli-Anfängern zur Seite zu stehen. "Diese Erfahrung schafft eine neue Sichtweise", ist er überzeugt.

Wie recht er hat. Bisher ist mir der holprige Gehweg vom Schloss zum ZOB nie aufgefallen: lose Gehwegplatten, ausgebrochene Betonteile, tiefe Löcher. Geübte Rolli-Fahrer bewältigen den Weg im Slalom, ich kann dagegen kaum das Gleichgewicht halten. Wir fahren in Richtung Kiosk. Die Straße ist an einer Stelle etwas abgesenkt. Kein Problem für Rolli-Fahrer, diese zu überwinden - sollte man meinen. Doch dann erweist sich die verbleibende Höhe von etwa sechs Zentimetern als Hindernis, das ich ohne die Hilfe von Manuel Zingerle nicht bewältigen kann. Nicht nur ich frage mich: Warum gibt es hier keine bodentiefe Absenkung? Über den Zebrastreifen geht es nun zur Alten Wache. Heranschießende Autos, die im letzten Moment zum Stehen kommen, haben aus meinem neuen Blickwinkel etwas Bedrohliches.

Zeit für ein Gruppenfoto an der Alten Wache, die letzte Stunde hat irgendwie zusammengeschweißt. Ich verstaue meine Kamera und bin froh, die paar Schritte bis zur Redaktion auf eigenen Beinen gehen zu können.