“Die Lieben meiner Mutter“ Lesung mit Peter Schneider

Manche Bücher fangen das Lebensgefühl einer Generation ein und prägen ihr Selbstverständnis - man spricht dann von einem Kultbuch. Zu diesen Büchern zählt auch die kurze Erzählung "Lenz" von Peter Schneider, 1973 erschienen und bislang rund 350 000-mal verkauft. Gestern las der Autor dieses Abgesangs auf die 68er-Kulturrevolution in der Heinrich-Osterwold-Halle aber nicht aus dem "Lenz", sondern aus seinem jüngsten biografischen Roman "Die Lieben meiner Mutter".

Es ist ein ganz anderes Buch und dennoch vielfältig damit verknüpft. "Lenz" war das Werk eines jungen, desillusionierten Autors nach dem Scheitern seiner Utopien. Nur der konnte das schreiben, so wie das neue Buch nur aus der Feder eines altersweise gewordenen "Lenz" fließen konnte, der zu der Erkenntnis gelangt ist, dass "auf der emotionalen Ebene alle Vorgaben in den ersten Lebensjahren eines Menschen angelegt werden". Ich war sehr gespannt auf diesen Abend.

Wir beide sind uns in den aufgeregten Jahren 1968/1969 nie begegnet. Aber zumindest ich wusste schon früh um ihn. Er agitierte als einer der Wortführer der Studentenbewegung in Berlin - bereitete unter anderem das Anti-Springer-Tribunal mit vor - träumte von einer linken proletarischen Partei, wurde schließlich als Referendar mit Berufsverbot belegt: Über Umwege wandelte es sich vom Aktivisten zum kritischen Chronisten und schrieb auch für bürgerliche Blätter wie die "Welt", die er einst bekämpft hatte.

Ich erlebte diese ersten Jahre meiner beruflichen Tätigkeit in Hamburg als Universität-Berichterstatter für die Deutsche Presseagentur - war also mittendrin im Geschehen, begeisterte mich für Rudi Dutschke, verkehrte im linken Republikanischen Klub, im Toulouse Lautrec Institut der Undergroundfilmer, berichtete über den Schmiedel-Prozess und interviewte als letzter Journalist Ulrike Marie Meinhof am Tag als sie in den Untergrund abtauchte. Als Schneiders "Lenz" erschien, hatte ich mich längst der künstlerischen Großtadt-Bohème zugewandt und fand mich in dem Buch bestätigt.

Während "Lenz" sich auf eine zentrale Figur und einen relativ kurzen Lebensabschnitt konzentriert, verknüpft Schneider in seinem aktuellen Buch zwei Erzählstränge und mehrere Zeitebenen: die Geschichte seiner Kindheit im Dorf Grainau unterhalb der Zugspitze, das anhand von Briefen rekonstruierte Liebesleben seiner Mutter in einer Dreiecksbeziehung mit ihrem Ehemann und dessen besten Freund, das anfangs noch privilegierte Kriegsleben, die Flucht aus Ostpreußen nach Bayern und schließlich die Geschichte des in die Jahre gekommenen Alt-68ers, dem bei seinen Recherchen die Augen aufgehen angesichts des radikalen Lebensentwurfs seiner Mutter.

Dieses Verweben von Zitaten, Erinnerungen, Reflexionen und Kommentaren schafft eine sehr dichte Erzählatmosphäre, die den Leser schnell in ihren Bann zieht und so manchen Zuhörer der Lesung dazu brachte, in die eigene familiäre Vergangenheit einzutauchen.