Multiple Sklerose trifft zu 70 Prozent Frauen bis 40 Jahre - Linderung bieten nicht nur Medikamente

Während der Schwangerschaft ist der weibliche Körper im Ausnahmezustand. Auch Schwindelgefühle sind nicht selten. Genau deshalb machten Rosemarie Grolms ihre Gleichgewichtsstörungen zunächst nicht stutzig. Schließlich trug sie im Jahr 1982 gerade ihren zweiten Sohn im Bauch. Doch die Stolperer und Stürze häuften sich. "Mama, kannst du nicht gerade gehen", fragte ihr älterer Sohn (damals 2) verdutzt. "Es war, als wenn das rechte Bein festklebt", erinnert sich die heute 68-Jährige. Und nicht nur das, plötzlich fing auch der Arm an zu kribbeln. "Als würden 1000 Ameisen darüber krabbeln." Und beim Fernsehen sah Rosemarie Grolms alles doppelt. Das war im Februar - im Mai war die komplette rechte Seite gelähmt. Sie kam ins Universitätskrankenhaus Eppendorf und musste neun Wochen bleiben. "Die Ärzte sprachen von einer Entzündung im Körper und gaben mir Kortison." Lähmung und Schmerzen verschwanden. Doch dass die junge Frau an Multiple Sklerose (MS) erkrankt war, erfuhr sie erst acht Jahre später von ihrer Augenärztin.

So wie der Geesthachterin geht es vielen MS-Patienten. "Im Schnitt dauert es dreieinhalb Jahre bis zu einer gesicherten Diagnose", weiß Andreas Heitmann, Geschäftsführer des Landesverbandes Schleswig-Holstein der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG). Die meisten Menschen erkranken im Alter zwischen 20 und 40 Jahren. "Das ist die Zeit, in der sich der Beruf findet, die Familienplanung beginnt, hier passiert viel im Leben", sagt Heitmann. Entsprechend würde der Hausarzt, Symptome wie Seh- und Empfindungsstörungen nicht selten als Auswirkungen von Stress einordnen. Selbst die Überweisung an den Augenarzt bringe nicht immer Aufklärung: "Oft wartet man hier so lange auf einen Termin, dass der erste Krankheitsschub schon abgeklungen ist." So landen viele Patienten erst, wenn neue Symptome auftreten, beim Neurologen. "Ärzte und Patienten müssen für die Krankheit sensibilisiert werden, wir bemühen uns um immer mehr Aufklärung", sagt der Experte. Der 40-Jährige weiß aber auch um die Schwierigkeit der richtigen Diagnose. Nicht ohne Grund werde MS als Krankheit mit den 1000 Gesichtern bezeichnet. Die Symptome können sehr verschieden sein, reichen von der Beeinträchtigung des Sehnervs, Empfindungsstörungen, Blasenschwäche bis hin zu Spastiken.

Nur 30 Prozent aller MS-Patienten sind Männer. Lutz Waldig ist einer von ihnen. Den 50-Jährigen traf die Krankheit mitten im Studium. Der angehende Verfahrenstechniker litt unter Schmerzen im Arm. Waldig hatte Glück im Unglück. Sein Hausarzt reagierte sofort und schickte den jungen Mann zum Neurologen. Der überwies Waldig mit Verdacht auf MS direkt ins Krankenhaus. Die Entnahme von Nervenwasser aus der Wirbelsäule und eine Untersuchung des Sehnervs brachten Klarheit. Doch für Lutz Waldig änderte sich zunächst überhaupt nichts. "Ich bekam Kortison-Tabletten und hatte über 16 Jahre lang Ruhe." Das ist überaus selten. Erst nach fast zwei Jahrzehnten kam die Krankheit zurück - ist heute ein fester Teil im Leben des Geesthachters. Sie äußert sich beim Stehen, Gehen, beim Kartoffel schälen oder Tee trinken. "Meine Sensorik ist gestört, oft fehlt das Gefühl in den Händen." Deshalb muss der zweifache Vater immer genau hinschauen, was er tut. Vor vier Jahren ging er in Frührente. Eine Entlastung, wie er sagt.

Neben den körperlichen Auswirkungen der Krankheit, dürfen auch die psychischen nicht unterschätzt werden. Hier kann der Austausch mit anderen Betroffenen helfen. In Geesthacht leitet Sigrid Schröder seit 2001 eine Selbsthilfegruppe für an MS erkrankte Menschen und deren Angehörige. Knapp 40 Mitglieder im Alter von 20 bis 70 Jahren gehören der Gruppe an. Sigrid Schröder kennt die psychische Herausforderung der Krankheit, auch ihre Tochter ist betroffen: "Viele fragen sich, wie es weitergeht. Manchmal werden auch die Schmerzen übermächtig." Dann kann die Gruppe Halt bieten. "Hier weiß ich, ich bin nicht allein", sagt etwa Rosemarie Grolms. Janet Rethmeyer, die vor 18 Jahren erkrankte, findet außerdem gut, dass "wir nicht nur über die Krankheit reden, im Gegenteil. Es wird viel gelacht". Denn ganz wichtig, sagt die 52-Jährige, sei die innere Einstellung: "Ich sage mir immer: Nicht die Krankheit hat mich, ich habe die Krankheit."

Die MS-Selbsthilfegruppe trifft sich jeden ersten Sonnabend im Monat um 15 Uhr im Gemeinderaum der Christuskirche (Neuer Krug 4). Kontakt: (0 41 52) 52 23. Mehr Infos bietet die DMSG: www.dmsg-sh.de , Tel. (04 31) 56 01 50.