Dassendorf. Emotionaler Ausbruch nach spätem Triumph für die TuS Dassendorf vor 2193 Zuschauern im Oberliga-Topspiel. Überraschender Matchwinner.

Er soll doch nach Hause gehen. Oder nach Hannover fahren. Und überhaupt ist er ein Blödmann. Martin Harnik musste sich während des Oberliga-Spitzenspiels seiner TuS Dassendorf beim FC Altona 93 so einiges von den Fans des Tabellenführers anhören. Mit der Erfahrung aus 240 Einsätzen in der Fußball-Bundesliga und 68 Spielen für Österreichs Nationalmannschaft ließ der Angreifer bis Sekunden vor dem Ende der Begegnung in der Adolf-Jäger-Kampfbahn alles regungslos an sich abprallen. Nun aber, da er und sein Team eine bereits verloren geglaubte Partie mit zwei Treffern in der Nachspielzeit noch in eine 4:3-Führung gedreht hatten, war selbst der sonst so coole TuS-Kapitän voller Adrenalin und ließ sich zu seiner Geste hinreißen, die für böses Blut auf der Tribüne sorgte.

Harnik schaute kurz in die Ränge und forderte die Anhänger dann mit einigen schnellen Armbewegungen dazu auf, doch noch mehr Stimmung zu machen. Eine Provokation, die unnötig, aber nach vielen Schmährufen auch menschlich war. Und zudem zeugte sie davon, wie sehr der 36-Jährige nach einem an Dramatik nicht zu überbietendem Spiel vor der Saison-Rekordkulisse von 2193 Zuschauern unter Strom stand.

TuS Dassendorf: Martin Harnik provoziert Anhänger von Altona 93

Bis in die dritte Minute der Nachspielzeit hatte die TuS mit 2:3 in Rückstand gelegen. Eine Pleite beim bis dato ungeschlagenen Spitzenreiter wäre wohl das Aus im Titelrennen gewesen. Dann aber sorgten Harnik (90.+3) und Kerim Carolus (90.+5) mit einem Doppelschlag binnen 120 Sekunden dafür, dass Dassendorf den Rückstand auf den AFC auf einen Zähler verkürzte und weiter auf die Meisterschaft hoffen darf. Allerdings hat Altona ein Spiel weniger ausgetragen.

Es ging mit großem Einsatz zur Sache. Hier zieht Jordan Brown (TuS Dassendorf, Mitte) an Gianluca Przondziono (l.) und Bujar Sejdija vorbei.
Es ging mit großem Einsatz zur Sache. Hier zieht Jordan Brown (TuS Dassendorf, Mitte) an Gianluca Przondziono (l.) und Bujar Sejdija vorbei. © BGZ/Hanno Bode | Bode

„Das sind Emotionen pur. Wir haben das ganze Ding jetzt noch mal offen gehalten. Und wir sind auf jeden Fall bereit, in den nächsten Wochen auf den ersten Platz zu rutschen“, sagte Carolus. Kurz zuvor war der Mann mit dem wohl kürzesten Spitznamen aller Hamburger Fußballer noch unter einer Jubeltraube begraben. „K“, wie der Verteidiger bei der TuS nur gerufen wird, hatte den Ball per Stirn ins Netz bugsiert, nachdem Oliver Doege zuvor per Kopf an der Latte gescheitert war. Aus Carolus wurde somit gewissermaßen „K1“. Denn es war sein erstes Saisontor.

Der Siegtorschütze kam nur ins Spiel, weil sich ein Teamkollege verletzte

Dass der 29-Jährige zum Helden einer denkwürdigen Partie avancierte, war eine von vielen verrückten Geschichten des Oberliga-Gipfeltreffens. Denn Carolus hätte vielleicht 90 Minuten lang auf der Ersatzbank Frust geschoben, wenn sich Abwehrchef Maximilian Ahlschwede kurz vor der Halbzeit nicht mit Rippenschmerzen hatte auswechseln lassen müssen (43.). So ersetzte der jüngere Bruder von TuS-Mittelfeldakteur Rinik Carolus Ahlschwede und überzeugte nicht nur wegen seines Treffers, sondern auch mit einer starken Zweikampfquote.

Als der Verteidiger ins Spiel kam, stand es bei einem 1:2-Rückstand nicht gut um seine Dassendorfer. Der Elf von Coach Thomas Seeliger mangelte es im ersten Abschnitt an Ideen, Tempo und Handlungsschnelligkeit. „Mit der ersten Halbzeit war ich nicht zufrieden, weil wir einfach nicht den Biss hatten“, sagte der Trainer.

Spektakuläres Altonaer Eigentor bringt die TuS Dassendorf zurück ins Spiel

Hinzu kam, dass TuS-Torhüter Sebastian Kalk zunächst nicht seinen besten Tag hatte. Beim ersten Gegentreffer war er noch machtlos, als Gianluca Przondziono einen Freistoß ins Eck schlenzte (9.). Die TuS kam zwar nur 180 Sekunden später zum Ausgleich, profitierte dabei aber von einem spektakulären Eigentor von Altonas Gideon Baur. Der Verteidiger fabrizierte nach einer Hereingabe von Mattia Maggio eine Bogenlampe, die sich wie in Zeitlupe über AFC-Keeper Dennis Lohmann ins Tor senkte.

Imposante Kulisse: Über 2000 Zuschauer wohnten der Partie an der Adolf-Jäger-Kampfbahn bei.
Imposante Kulisse: Über 2000 Zuschauer wohnten der Partie an der Adolf-Jäger-Kampfbahn bei. © BGZ/Hanno Bode | Bode

Viel mehr hatte die Seeliger-Mannschaft offensiv vor der Pause nicht zu bieten. Sinnbildlich für den mit Mängeln behafteten Auftritt vor der Halbzeit war Altonas 2:1-Führung durch Pascal El-Nemr. Der frühere Curslacker köpfte einen langen Ball aus weiter Entfernung über den völlig übermotiviert herausstürzenden Keeper Sebastian Kalk in die Maschen (26.). Dass der Torhüter sein Team später in der Schlussphase beim Stand von 2:3 dann aber vor dem endgültigen K.o. bewahren sollte – es war eine weitere verrückte Geschichte unter dem Titel „Vom Buhmann zum Helden“.

Nach der Pause steigerten sich die Gäste. „Ich habe zur Halbzeit gesagt: Wenn man so ein Spiel hat, dass wir wie ein Pokal-Endspiel angehen müssen, dann muss ich erwarten können, dass ich Zweikämpfe annehme und auch führe“, verriet Coach Seeliger. Er wechselte Lennard Sowah und Marvin Büyüksakarya für Hendrik Dettmann und Rinik Carolus ein (57.) und stellte um. So rutschte Ashton Götz, der bis dahin als Linksverteidiger unglücklich agiert hatte, eine Position nach vorn und blühte in seiner neuen Rolle auf.

In der Nachspielzeit dreht die TuS Dassendorf per Doppelschlag die Partie

Zunächst holte der 30-Jährige einen Strafstoß heraus, den Harnik zum 2:2 verwandelte (67.). Nachdem Altona durch Lenny Glissmann zum dritten Mal in Führung gegangen war (85.) und hernach zweimal das mögliche 4:2 ausgelassen hatte, bereitete Götz mit einer mustergültigen Hereingabe auf den langen Pfosten, wo erneut Harnik zur Stelle war, in der Nachspielzeit auch den 3:3-Ausgleich vor.

Damit aber noch nicht genug der Heldentaten des 30-Jährigen, der einst für den HSV elf Bundesliga-Partien bestritt. Sekunden vor dem Abpfiff gelangte der Ball nach einer vom AFC abgewehrten Ecke zu Götz. Dessen butterweiche Flanke köpfte Doege ans Aluminium. Der Abpraller wurde zur Vorlage für Kerim Carolus, der zum 4:3-Endstand traf. Der Rest war pure Dassendorfer Ekstase.

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„Wenn du so kurz vor Schluss das 2:3 fängst, dann hast du schon kurz einen Knick im Kopf. Aber dann haben wir vorne noch irgendwie einen reingewurschtelt. Und in solchen Spielen brauchst du dann auch das Quäntchen Glück. Und das haben wir heute gehabt“, sagte der Siegtorschütze. „Das ist eine geile Geschichte für uns.“ Sein Coach war derselben Meinung. „So eine Moral zu zeigen, in so einer Situation nochmal so zurückzukommen, wirklich alles reinzuhauen und sich dann auch noch so dafür zu belohnen, das ist schon ein geiles Gefühl. Und ich glaube, das tut uns gut“, erklärte Seeliger, dem unmittelbar nach dem Fußball-Drama in der Adolf-Jäger-Kampfbahn ein paar Freudentränen über die Wangen kullerten.

Vom Oberliga-Spitzenspiel ging es für Harnik direkt zur 2. Bundesliga

Auch Harnik, der in seiner bewegten Profi-Karriere viele noch emotionalere Siege gefeiert hatte, war überglücklich. Und Altonas Fans tat der Doppel-Torschütze dann sogar auch noch einen Gefallen: Er fuhr wie von einigen Anhängern schon während der Partie gefordert an die Leine. Dort begleitete er die Zweitliga-Partie seines Ex-Clubs Hannover 96 gegen den 1. FC Kaiserslautern als Experte für Sport.1. Vom Spannungsbogen her konnte dieses Duell (1:1) allerdings nicht annähernd mit Oberliga-Gipfel in Altona mithalten.

TuS Dassendorf: Kalk – Brown, Ahlschwede (43. K. Carolus), Götz – Dettmann (57. Büyüksakarya), Kurt (70. Doege), Möller, Strömer, R. Carolus (57. Sowah), Maggio – Harnik.