Lüneburg/Bremen. Vom Schmerz zur Schönheit: Die Ausstellung „Überwunden“ präsentiert Tattoos von acht Menschen, die sich selbst verletzt haben.

  • Wenn Menschen sich selbst Schnittwunden zufügen, spricht man von selbstverletzendem Verhalten
  • Mediziner unterscheiden dabei zwischen suizidalen und nicht-suizidalen Absichten
  • Besonders betroffen ist die Altersgruppe der 14- bis 17-Jährigen

Viele tiefe Schnittnarben bedecken den Oberarm von Michael. Die Verletzungen hat er sich selbst mit einem scharfen Küchenmesser zugefügt. „Ich wollte mich selbst dafür bestrafen, dass ich meine eigenen ambitionierten Ziele nicht erreicht habe“, sagte der 40-jährige durchtrainierte Mann.

Heute ziert die Narben der Vergangenheit ein großes Tattoo: Eingerahmt von einem geflochtenem Seil schwingt sich ein Kite-Surfer über die tosenden Wellen in die Lüfte. „Das ist heute mein ständiger Begleiter. Es zeigt mir, dass das Leben auch leicht und schön sein darf.“

Das Ritzen überwinden: Ein Tattoo als Kunstwerk auf verletzter Haut

Im Obergeschoss des Bremer Krankenhaus-Museums ist bis zum 14. Juli die Sonderausstellung „Überwunden – Tattoos auf Narben der Vergangenheit“ zu sehen. Sieben Frauen und Michael beschreiben dort, wie sie zu ihren Narben gekommen sind und wie sie ihre selbstverletzende Krankheit überwunden haben. Sie alle haben sich vom Lüneburger Tattoo-Künstler Daniel Bluebird ein Kunstwerk auf die verletzte Haut stechen lassen – als Symbol dafür, dass sie ihre Krankheit überwunden haben.

Lüneburger Tätowierer: Immer wieder kamen Menschen, die Verletzungen überdecken ließen

„Die Idee zum Projekt entstand bei der Arbeit“, sagt Daniel Bluebird. Immer wieder kamen Menschen zu ihm, die Hautverletzungen mit einem Tattoo überdecken ließen. „Bei dieser Arbeit wird natürlich geredet.“ Oft werde schnell klar, die Verletzungen sind nicht bloß äußerlich, sondern sitzen auch tief in der Seele. „Und ich habe mir gedacht, diese Geschichten sollten nicht nur in den vier Wänden meines Studios bleiben.“

Michael neben einem Foto seiner Tätowierung am Arm. Er arbeitet heute in Hamburg als Coach und Berater.
Michael neben einem Foto seiner Tätowierung am Arm. Er arbeitet heute in Hamburg als Coach und Berater. © epd | Tristan Vankann

Bluebird stellte ein Team zusammen und startete einen Aufruf in den sozialen Medien. „Gut 150 Betroffene haben sich gemeldet, die bereit waren, ihre Geschichte zu erzählen und sich tätowieren zu lassen.“ Es waren bis auf drei Ausnahmen nur Frauen. Letztlich entstanden acht sehr individuelle Porträts, die nun in der Ausstellung auf Texttafeln, auf Fotos und jeweils einem Video zu sehen sind.

So unterschiedlich die Menschen sind, so unterschiedlich sind auch deren Tattoo-Motive: Franzi aus Berlin ließ sich den sagenhaften Vogel Phönix stechen, der aus seiner eigenen Asche wieder aufersteht. Carinas Arm ziert jetzt ein Leuchtturm, weil ihr der Blick auf die Ostsee immer wieder innere Ruhe schenkt.

„Darüber muss mehr in der Öffentlichkeit gesprochen werden.“

Der Leiter des Museums ist begeistert von der Ausstellung: „Sie behandelt eines unserer Kernthemen“, erläutert Jannik Sachweh. Die Leitende Oberärztin der Kinder- und Jugendpsychologie der Klinik, Inken Putzig, ergänzt: „Darüber muss mehr in der Öffentlichkeit gesprochen werden.“ Statistiken zufolge verletze sich fast jedes dritte Kind mindestens einmal während seiner Schulkarriere bewusst selbst. „Und die Dunkelziffer dürfte um einiges höher liegen.“

Fotografien und Videos, Interview-Passagen und persönliche Gegenstände dokumentieren den Leidensweg der Betroffenen.
Fotografien und Videos, Interview-Passagen und persönliche Gegenstände dokumentieren den Leidensweg der Betroffenen. © epd | Tristan Vankann

Selbstverletzungen seien Schülerinnen und Schülern im Alltag bekannt, betont die Medizinerin. „Wir müssen darüber reden - Verschweigen macht alles nur noch schlimmer. Die Schau zeigt, dass es positive Wege aus dieser Verzweiflung gibt.“ Darum wäre es aus ihrer Sicht auch eine gute Idee, die Ausstellung mit einer Schulklasse zu besuchen.

Selbstverletzendes Verhalten: Kitesurfen in der Nordsee als Mittel gegen den Schmerz

Michael arbeitet heute in Hamburg als Coach und Berater bei Change-Prozessen. So oft es geht, surft er auf der Nordsee. Der Sport habe ihn gelehrt, dass er mit seinem Kite nur dann über die Wellen fliegen kann, wenn alle Bedingungen stimmen. „Und das kann man nicht erzwingen.“

Früher hätten alle auf seine Wunden gestarrt. „Aber heute schäme ich mich nicht mehr für meine Narben. Heute starren sie alle auf mein Tattoo“, sagt Michael und lächelt: „Für mich eine schöne Symbolik, die mir täglich Kraft gibt.“