Lüneburg. Amélie Gräfin zu Dohna leitet das Kloster Lüne. Mit dem Abendblatt spricht sie über Gott, Liebe und die Erwartung von Harmonie.

„Wissen Sie, woran ich immer denken muss, wenn es um Gott und die Liebe geht?“ Amélie Gräfin zu Dohna hat uns beiden einen Kaffee eingeschenkt, setzt sich, greift zum Becher und schlägt die Beine übereinander. Wir haben uns zu einem Gespräch über Gott und die Liebe verabredet, und weil das, gerade zu Weihnachten, wenn Liebe fast schon verordnet wird, so schwierig sein kann, geht es erst einmal darum, was aus der Liebe wird, wenn ihr das „e“ am Ende fehlt.

Zum Glück hoffen rhetorische Fragen auf keine Antwort, und die Pastorin gibt sie selbst: „Ich muss dann immer an die Geschichte von dem Mann mit dem Hund im Wald denken.“ Sie geht so: Ein Mensch spaziert durch den Wald. Kommt ihm ein Mann mit Hund entgegen. Der Hund läuft auf den Menschen zu. Der Besitzer ruft: „Der ist lieb. Der tut nichts!“

„Was passiert, wenn wir nicht einen Hund lieb nennen, sondern Gott?“, fragt die Klostervorsteherin

Was aber passiert, wenn wir nicht einen Hund lieb nennen, sondern Gott? Den „lieben Gott“? Ist das bei Gott dann auch so? Frei nach dem Hund: Der ist lieb, der tut nichts?

Szene aus der Weihnachtsgeschichte, aus Holz geschnitzt am Altar der Kirche des Klosters Lüne in Lüneburg.
Szene aus der Weihnachtsgeschichte, aus Holz geschnitzt am Altar der Kirche des Klosters Lüne in Lüneburg. © HA | Carolin George

Gott ist lieb, Gottes Liebe ist überall. Als ob die beiden Begriffe zusammengehören würden wie Pech und Schwefel. „Dabei spricht die Bibel auch davon, dass Gott zornig werden kann“, sagt Amélie Gräfin zu Dohna und stellt den Kaffeebecher ab, „besonders, wenn Menschen Unrecht getan wird. Wenn wir darüber hinweg gehen und nur von Gottes Liebe reden, verharmlosen wir ihn. Wenn wir nur sagen, der ist lieb: Dann heißt das irgendwann auch: Der tut nichts.“

Wie beim Hund im Wald. Der tut auch keinem was. Aber hilft das?

Ein Backofen ist warm und gibt von seiner Wärme ab. Spendet Licht und Energie

Martin Luther sagte: „Gott ist ein glühender Backofen voller Liebe, der da reichet von der Erde bis an den Himmel.“ Ein Backofen ist warm und gibt von seiner Wärme ab. Spendet Licht und Energie. Macht Metamorphosen möglich: vom Teig zum Laib, von nicht sonderlich wohlschmeckenden einzelnen Zutaten zum köstlichen Brot. Diese Energie kann auch Menschen verwandeln.

An seiner Hitze können wir uns aber auch verbrennen. Liebe, Achtung: nicht nur Gottes Liebe, kann auch anspruchsvoll sein, leidenschaftlich, fordernd, lodernd. Wenn etwas brennt, verbrennt auch etwas.

Im ersten Johannisbrief steht die einzige Definition von Gott in der Bibel. Gott bekommt zwar viele Eigenschaften zugeschrieben, aber sein Wesen ist in einem einzigen Wort beschrieben: Liebe.

Lieben wir Gott also auch? Wird Gott zurückgeliebt? „Ja“, sagt die Pastorin.

„Gottes Liebe erfahren Menschen auf viele unterschiedliche Weisen“, sagt Amélie Gräfin zu Dohna. „Für manche ist ihre Beziehung zu Gott stärkend, manchen macht der Gedanke Angst. Manche sind dankbar für alles, was sie geschenkt bekommen, manche vertrauen Gott die Geheimnisse ihres Herzens an.“

Großmutter, Mutter und Kind: Die Skulpturengruppe Anna, Maria und Jesus aus Sandstein, Sinnbild für Verbundenheit und Liebe, entstand um 1530 und steht im Kreuzgang des Klosters Lüne.
Großmutter, Mutter und Kind: Die Skulpturengruppe Anna, Maria und Jesus aus Sandstein, Sinnbild für Verbundenheit und Liebe, entstand um 1530 und steht im Kreuzgang des Klosters Lüne. © HA | Carolin George

Lieben wir Gott also auch? Wird Gott zurückgeliebt? „Ja“, sagt die Pastorin. „Besonders in den anderen.“

Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst: Was im dritten Buch Mose steht, wird heute, freilich etwas anders formuliert, in Persönlichkeits-Workshops gelehrt. Liebe dich selbst. Das haben Menschen schon vor Tausenden Jahren aufgeschrieben – allerdings nicht isoliert, sondern eben als Doppelgebot. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.

Luther hat diese Ermutigung noch einmal verstärkt: Nimm dich an. Ohne Bedingungen! Du musst dich nicht rechtfertigen dafür, dass und wie du bist. Nur erreicht diese Botschaft heute die Menschen eher in Seminarräumen als in Kirchen.

Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Das ist eine Basis für eine gesunde Psyche.

Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Das ist nicht nur eine Basis für eine gesunde Psyche. Es ist auch eine Basis für jedes menschliche Miteinander. Allerdings: Wer sie wörtlich versteht, wird Probleme bekommen. Wie bei so vielen Gelegenheiten, wenn es um Gott geht.

„Bitte sachlich nehmen“, lautet daher der Rat der früheren Pfarrerin. „Natürlich können wir nicht alle Menschen liebhaben. Nicht jedem Menschen unser Herz schenken. Das kann ja nur eine Überforderung sein.“ So meint die Nächstenliebe weniger eine Emotion denn ein Handeln. Was könnte meinem Gegenüber guttun? Was ist gerade nötig? Die Antwort ist verblüffend einfach: „Ich überlege, was ich selbst bräuchte. Und das gebe ich.“

Das muss nicht immer exakt das sein, was unser Gegenüber braucht. „Aber es ist ein guter Maßstab“, sagt die Theologin und fragt, ob sie nochmal nachschenken solle. „Wer diese Nächstenliebe einmal erlebt hat und wem sie guttat, der wird sich anderen gegenüber auch so verhalten, fast automatisch.“

Weihnachten ist es oft schwierig, wenn Gemeinschaft und Familie in Harmonie erwartet werden

Was könnt‘ es so einfach sein! Spätestens seit Herbert Grönemeyer und den Fantastischen Vier wissen wir allerdings: Das isses aber nicht. „Und schon gar nicht an Weihnachten“, sagt die Pastorin, die jetzt als Seelsorgerin spricht und unwillkürlich die Schultern ein klein wenig hochzieht, wenn der Körper sagt: So ist das – leider. „Gerade an Weihnachten ist es oft schwierig, wenn Gemeinschaft und Familie in Harmonie erwartet werden.“ Am Fest der Liebe, wenn Einsamkeit sich noch leerer anfühlen kann, Trauer und Verlust noch schmerzhafter stechen.

Für Christen kann die Weihnachtsbotschaft ein Trost sein: Da ist einer wie ich. Mein Nächster. Der sich nicht zum König in einem Schloss macht, sondern zum Baby in einem Stall. Schutzlos, ausgeliefert. Klein fängt die Liebe an.

Autorin Carolin George war 42, als sie konfirmiert wurde.
Autorin Carolin George war 42, als sie konfirmiert wurde. © HA | Carolin George

Amélie Gräfin zu Dohna, 61, Theologin, war bis 2022 Pastorin am Dom zu Bardowick. Seit Anfang 2023 leitet sie als Äbtissin das Kloster Lüne.

Carolin George, 47, freie Journalistin, konnte die meiste Zeit ihres Lebens nichts mit Gott und Kirche anfangen. Bei ihrer Konfirmation war sie 42 Jahre alt.