Auf langen Holztischen stehen Tassen mit dampfendem Tee, Thermoskannen, Gläser mit bunten, frisch gepressten Säften. Es ist Sonntagmorgen im Fastenhaus Werner in Westerland. 26 Gäste sind zu einer einwöchigen Fastenwanderwoche angereist. Ihr Frühstück: Tee und Säfte. „Nach dem Wandern stehen hier Zitronen- und Orangenschnitzchen für euch. Schnitzchen, nicht Schnitzel“, betont Fastenleiterin Angelika Hüging. Gelächter in der Gruppe. Die Stimmung ist gut – trotz des Nahrungsentzugs.
Krabbenbrötchen oder fünf Gänge im Gourmetrestaurant mit edler Weinbegleitung: All das ist jetzt tabu. Stattdessen bestimmen viel Trinken und Bewegung den Alltag. Geld bezahlen für kulinarische Enthaltsamkeit? Auf Sylt, wo die genüsslichen Verlockungen an jeder Ecke lauern? Klingt schon etwas absurd. Für Heike Werner, Betreiberin des Fastenhauses, ist das jedoch gar nicht abwegig. „Fasten ist nicht Hungern. Es ist der freiwillige Verzicht auf Nahrung, um den Körper von Giftstoffen zu befreien und Heilungsprozesse in Gang zu setzen“, sagt sie. Ihre Mutter Ulla war im Jahr 1992 die erste, die Fastenwandern auf der Insel anbot. Zehn Jahre später gründete sie gemeinsam mit ihren Kindern ein Fastenhaus.
„Im ersten Jahr hatten wir etwa 300 Gäste. Heute sind es mehr als 1000 jährlich“, freut sich Heike Werner. Zwischen 80 bis 90 Prozent der Fastenwanderer werden zu Wiederholungstätern. Andrea Henkel aus Troisdorf gehört dazu. Auf Sylt fastet und wandert sie schon seit zehn Jahren. Obwohl ihr Einstieg in das Fasten misslang. „Ich habe mit einer Freundin gefastet, weil ich abnehmen wollte. Allerdings hatten wir keine Anleitung“, erzählt sie. Prompt folgten Hunger, Kopfschmerzen und Abgeschlagenheit. Dass man im Alleingang scheitert, ist nicht ungewöhnlich, weiß Fastenleiterin Angelika Hüging. „Das Gefühl in der Gruppe trägt einen. Da ist viel Energie und positive Stimmung. Das nimmt den Neulingen auch die Angst vor körperlichen Beschwerden.“
Eine Fastenwanderwoche auf Baltrum brachte für Andrea Henkel die Wende. „Da habe ich ein Gefühl dafür bekommen, wie gut das sein kann“, so die Psychotherapeutin. Die Ruhe am Meer, die ganzheitliche Reinigung von Körper und Geist sind Erfahrungen, die Andrea Henkel nicht mehr missen möchte. „Das ist für mich wie an eine Tankstelle zu fahren“, so die 55-Jährige, die auch medial „entgiftet“: Kein Fernsehen, kein Radio, das Handy wird nur zum Wecken eingeschaltet.
Michael Weber aus Berlin ist zum ersten Mal dabei. „Ich habe von einem Bekannten vom Fastenwandern auf Sylt erfahren. Das ist eine gute Abwechslung zu meiner Diät“, findet der 36-Jährige. Am zweiten Tag ist er noch guter Dinge, hat außer leichtem Kopfdruck keine Beschwerden. Einziger Knackpunkt: Das Kaugummikauen. „Das solltet ihr lassen. Es suggeriert dem Körper, dass er etwas zu Essen bekommt“, erklärt Angelika Hüging. Für Michael Weber ein Problem, denn das Kaugummikauen lenkt ihn vom Rauchen ab – natürlich ein Tabu während des Fastens. „Auf Kaugummi und Rauchen verzichten, da könnte ich schlechte Laune kriegen“, befürchtet er.
Schlechte Laune bekommt er zwar nicht. Dafür sucht ihn am dritten Tag die berüchtigte Fastenkrise heim: Kopfschmerzen und Mattigkeit lähmen. Vom vierten Tag an wird Weber für den Nahrungsentzug belohnt. „Ich fühle mich super, habe viel Energie. Gestern war ich sogar 23 Kilometer wandern“, erzählt Michael Weber stolz. Seine Augen strahlen, das Gesicht wirkt erholt und frisch. Das Fastenwandern hat sich auch positiv auf sein Geschmacksempfinden ausgewirkt. „Ich weiß wieder, wie toll ein frisch gepresster Saft schmecken kann.“ In den Alltag nimmt er jetzt die vielen Eindrücke von Sylt mit und ein besseres Körpergefühl. Sein Fazit: „Ich würde es wieder tun.“
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