Der Mord an der Reinfelder Schülerin 1985 lässt die Kieler Ermittler nicht ruhen. 2010 wurde der bis dato größte Massengentest des Landes durchgeführt. Ohne Erfolg. Die Hoffnung schwindet.

Reinfeld/Lübeck. Im Archiv liegen die Akten mit den hoffnungslosen Fällen: ungelöst und doch unvergessen. Dann kommt es vor, dass sich Polizeiermittler eine dieser Akten noch mal vornehmen. Dass sie plötzlich eine heiße Spur finden, die ihre Kollegen eine Generation zuvor noch gar nicht hätten entdecken können: Genmaterial des Täters. Die Beamten sind euphorisch, sie sind sich ganz sicher, den Täter jetzt fassen zu können. Der Mord an der Schülerin Silke B. aus dem schleswig-holsteinischen Reinfeld (Kreis Stormarn) ist so ein Fall, ungelöst und doch unvergessen.

Im Herbst 2010, mehr als 25 Jahre nach dem Tod der Schülerin, führte dieser Fall zum bis heute größten Massengentest in der Geschichte des Landes. 2200 Männer wurden aufgefordert, eine Speichelprobe abzugeben. Und die Ermittler sagten, sie seien sich sicher, dass Silkes Mörder unter diesen 2200 sei. Mag sein, dass es so ist. Gefunden haben sie ihn bis heute nicht. Die Ermittlungen stocken. „Wir arbeiten nur noch an dem Fall, wenn es gerade nichts Aktuelles zu bearbeiten gibt“, sagt die Lübecker Polizeisprecherin Carola Aßmann auf Nachfrage. Aber eigentlich liegt ja immer was Aktuelles an. Wenn überhaupt, widmet sich nur noch äußerst selten jemand dem Fall.

Die Akte Silke B. wird am 2. Juni 1985 angelegt. Am Morgen haben Polizeibeamte den Leichnam der 15-Jährigen in einem Moorgraben an einem Rapsfeld zwischen den kleinen Ortschaften Schlamersdorf und Sühlen gefunden, zwölf Kilometer Luftlinie von Silkes Elternhaus entfernt. Die Schülerin soll am Vorabend gegen 17 Uhr zur Party „Spektakel 85“ in der Schule Masurenweg in der benachbarten Stormarner Kreisstadt Bad Oldesloe aufgebrochen sein; sie ist dort nie angekommen.

Schreibmaschine und Wählscheibe

Alte Schwarz-Weiß-Fotos zeigen die Polizisten bei der Spurensicherung. Es ist eine Generation von Beamten, die ihre Berichte in die Tastatur der Schreibmaschine hacken und die eine Wählscheibe drehen, wenn sie telefonieren wollen. Hemdsärmelig stehen sie am Fundort. Schutzkleidung ist 1985 ein Fremdwort. Genetischer Fingerabdruck auch. Den hat der Brite Alec John Jeffreys überhaupt erst neun Monate vor Silkes Tod eher zufällig entdeckt. Einige Monate nach der Tat wird die Akte Silke B. geschlossen, ungelöst und unvergessen.

25 Jahre vergehen, ehe sie im Herbst 2010 wieder hervorgeholt wird. Ein Jahr zuvor haben Kriminalpolizisten mithilfe eines DNA-Abgleichs schon den Mord an der Sekretärin Gabriele E. aus Hamburg-Rahlstedt aufklären können, die ein Jäger am 28. Dezember 1985 in der Feldmark bei Stapelfeld tot aufgefunden hatte. Ihr Mörder: ein Tangstedter, der sich 2009 nach einem Sittlichkeitsverbrechen das Leben genommen hat. Nun greifen sich die Ermittler weitere ungelöste Fälle, untersuchen die damals sichergestellten Beweisstücke auf verwertbare DNA-Spuren. Und tatsächlich werden sie im Fall Silke B. fündig, obwohl 25 Jahre zuvor kein Polizist Schutzkleidung getragen hat. „Wir haben damals alles gemacht, was nach dem Stand der Technik möglich war“, sagt Stormarn ehemaliger Kripochef Heinz Hoffmann, damals 78-jährig und längst pensioniert, im Oktober 2010 nicht ohne Stolz.

Da halten die Ermittler also plötzlich in den Händen, was der Mörder am 1. Juni 1985 am Tatort verloren hat, ohne auch nur zu ahnen, dass ein Mensch so etwas verlieren kann: sein Erbgut. Damals haben die Kriminalpolizisten ein Täterprofil angelegt: 18 bis 25 Jahre alt, kann Auto fahren, lebt maximal 15 Kilometer vom Tatort entfernt oder besucht eine örtliche Schule. Das ist einem Amtsrichter 25 Jahre später konkret genug, um einen Massengentest zu genehmigen. Etwa 2200 Männer entsprechen dem Profil, 1400 von ihnen leben noch in der Region.

Am letzten Oktober-Wochenende 2010 geben die meisten von ihnen in einer Reinfelder und einer Oldesloer Schule Speichelproben ab, die Polizeibeamte entgegennehmen und dann zur Auswertung ins Rechtsmedizinische Institut nach Kiel schicken. Dort extrahieren Mitarbeiter die DNA aus einer jeden einzelnen Probe, erstellen einen genetischen Fingerabdruck, lassen ihn von einem Computer mit dem von Silkes Mörder vergleichen. Verglichen wird die DNA an 16 verschiedenen Stellen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie bei zwei Menschen identisch ist, liege bei eins zu einigen Milliarden, erklären die Mitarbeiter damals. Ein Computer kann das innerhalb von Bruchteilen von Sekunden feststellen. „Wenn alles übereinstimmt, dann haben wir ihn. Dann greifen wir zum Telefonhörer und rufen die Kripo an.“ Bis heute hat niemand zum Telefonhörer gegriffen.

„Mehr als 98 Prozent der damals angeschriebenen Männer sind inzwischen untersucht worden“, sagt Polizeisprecherin Aßmann heute. „Der Mörder ist nicht unter ihnen gewesen.“ Die restlichen, es mögen um die 40 sein, bereiten der Polizei aber viel Arbeit. Aßmann: „Es gibt die Verweigerer, die einfach nicht gekommen sind. Für jeden Einzelnen brauchen wir einen Gerichtsbeschluss, müssen begründen, warum wir genau den sehen wollen und keinen anderen.“ Das dauere. Und es gibt diejenigen, die im Ausland leben. „An die versuchen wir mit Unterstützung der Botschaften ranzukommen.“ Auch das dauere.

Und die Polizei hat eben Aktuelles zu tun. „Wir machen weiter, bis wir alles abgearbeitet haben“, sagt Polizeisprecherin Aßmann zwar. Aber eben nur, wenn mal jemand Zeit habe. Nicht auszuschließen auch, dass der Täter gar nicht im Kreis der 2200 angeschriebenen Männer zu finden ist – weil er vielleicht nicht maximal 15 Kilometer vom Tatort entfernt gewohnt hat, sondern 15 Kilometer und 100 Meter. Die Euphorie der Ermittler aus dem Jahr 2010 ist jedenfalls verflogen. Der Fall Silke B. aber bleibt unvergessen. Und ungelöst.