Vor 20 Jahren kollidierten in Bad Bramstedt zwei Züge. Acht Menschen starben. Die Ursache ist nicht zweifelsfrei ermittelt. War es Selbstmord?

Bad Bramstedt. Lokführer Helmut P. fährt einfach los. Ohne sich vorher per Sprechfunk beim Zugleiter die Erlaubnis geben zu lassen. Er beschleunigt seinen AKN-Triebwagen der Baureihe LHB VT 2E auf der eingleisigen Strecke hinter dem Bahnhof Bad Bramstedt in Richtung Neumünster. Aus der Gegenrichtung kommt der Kollege Uwe S. mit seinem gut besetzten Zug. In einer Kurve, 500 Meter hinter dem Bramstedter Bahnhof, krachen die beiden Triebwagen mit Tempo 60 frontal ineinander. Sechs Passagiere sterben, mehr als 80 Menschen in den Zügen werden zum Teil schwer verletzt. Unter den Toten: Sowohl Helmut P. als auch Kollege Uwe S. Und dessen Tochter Dunja. Die 14-Jährige wollte an diesem Tag mal mit ihrem Papa mitfahren.

20 Jahre ist das schwerste Unglück in der Geschichte der Eisenbahn-Aktiengesellschaft Altona-Kaltenkirchen-Neumünster (AKN) jetzt her. Genau um 15.26 Uhr am 29. September 1994 verursachte Helmut P. mit seinem Versagen einen der größten Rettungseinsätze in der Nachkriegsgeschichte des Landes Schleswig-Holstein. 130 Feuerwehrleute, 140 Rettungsassistenten, 20 Ärzte, 25 Mitarbeiter vom Technischen Hilfswerk und Dutzende Polizisten waren damals im Einsatz.

Die Folgen des Scheiterns von Helmut P. sind bis ins Detail dokumentiert. Ungeklärt bis heute ist die Frage, warum es dazu kam. Für Marita Haverkamp, 53, aus Henstedt-Ulzburg ist die Antwort klar. „Der Helmut wollte sich umbringen. Das war ein Selbstmord. Helmut war ein 180-prozentiger Eisenbahner. Der vergisst nicht so einfach, sich die Zugfreigabe zu holen.“

Um zu verstehen, wie Marita Haverkamp zu ihrem Urteil kommt, muss man sich ihre Lebensgeschichte anhören, die zu einem Gutteil auch die von Helmut P. war. Es ist eine Geschichte mit familiären Abgründen, voller Demütigungen und seelischer Grausamkeit.

„Republikflüchtling“ Helmut P. hatte 1975 die DDR, seine Frau und zwei Töchter hinter sich gelassen. Der Lokführer sprang einfach am Berliner Bahnhof Zoo aus dem Führerstand des Transitzuges aus Hamburg und bat bei der Polizei um Asyl. Als erfahrener Eisenbahner fiel es dem damals 37-Jährigen nicht schwer, einen neuen Job zu finden. 1976 konnte er bei der AKN in Kaltenkirchen anfangen. „Mein Vater war auch Lokführer bei der AKN und gabelte Kollege Helmut auf. Der hatte keine Bleibe. Also durfte er bei uns einziehen“, erinnert sich Marita Haverkamp. Sie war 16 Jahre alt, als Helmut einzog.

Es dauerte nicht lange, da kam es zu einer folgenschweren Liaison zwischen Helmut P. und der Mutter von Marita Haverkamp. „Mein Vater wurde unter seinem eigenen Dach ausgebootet. Er verkrümelte sich in den Keller des Hauses und ließ meine Mutter gewähren.“ Marita Haverkamp beschreibt die Mutter als schrecklichen Hausdrachen. „Es ist nicht schön, so etwas über seine Mutter sagen zu müssen. Aber sie war eben ein echtes Aas.“ Bis heute kann sie sich nicht verzeihen, dass sie und ihr Vater sich nicht mehr gewehrt haben gegen sie. Jahrelang lebte die zerrüttete Familie im Zeichen dieser seltsamen Dreiecksbeziehung. Die Mutter mit ihrem herrischen Wesen terrorisierte nicht nur Marita Haverkamp und ihren Halbbruder, sondern auch den Ehemann und den Liebhaber Helmut P. „Zu Helmut hatte ich trotz der Situation immer ein gutes Verhältnis. Er tat alles für mich. Bei einem unserer Spieleabende bekam er seinen Spitznamen von mir: Helmine. Bald nannten ihn alle so“, sagt Marita Haverkamp.

„Helmine“ holte in den 80-er Jahren seine Familie aus der DDR nach Kaltenkirchen. Er zog dort mit Frau und Kindern in eine kleine Wohnung. „Die Ehe war kaputt. Das ging nicht lange gut. Die Familie trennte sich. Und Helmine zog wieder bei uns ein.“

Im Unglücksjahr 1994 eskalierte die Situation. „Über seinen ganzen Kummer war mein Vater schwer am Herz erkrankt. Und im Juni kam heraus, dass Helmut eine Freundin hatte. Meine Mutter drehte komplett durch.“ Marita Haverkamp erinnert sich, wie ihre Mutter Helmut in der Waschküche auflauerte. „Sie beschimpfte ihn, schließlich trat sie auf ihn ein. Er wehrte sich kaum. Es war grauenvoll. Ich musste dazwischengehen.“ Es folgte eine Zeit des Psychoterrors der Mutter gegen Helmut P. Schließlich warf die Mutter Helmut aus dem Haus. Der zog bei der neuen Freundin ein. „Meine Mutter stellte ihm nach und beobachtete ihn. Sie ließ ihn noch nicht mal mehr ins Haus, damit er seine Sachen holen konnte.“

Als die Mutter mal nicht da war, ließ Marita Haverkamp Helmut ins Haus. „Da stand er im Wohnzimmer. Und weinte. Das hatte ich noch nie bei ihm gesehen. Er war sonst immer gut drauf“, sagt Marita Haverkamp. Im September, als Marita Geburtstag hatte, schickte Helmut plötzlich einen Brief und eine Videokassette mit Zusammenschnitten von den vielen Familien-Filmchen, die er in alle den Jahren gemacht hatte. „Aufnahmen von mir und meinen Haustieren. Seine Zeilen dazu waren sehr merkwürdig. Ich sollte ihn in guter Erinnerung behalten, schrieb er.“

Auch Maritas Vater, der am Unglückstag Geburtstag feierte, bekam ein Video mit Eisenbahnfilmen und einen ebenso sentimentalen Brief. Marita dachte, es stimmt was nicht mit „Helmine“. Der ist todunglücklich. Ach wo, sagte der Vater. Um 15.26 Uhr saß die Familie beim Geburtstagskaffee zusammen. Da kam der Anruf für den Vater. Unglück bei der AKN. Marita sagte zu ihrem Vater: „Ich weiß, wer den Zug gefahren hat.“ Quatsch, sagte der Vater.

Marita Haverkamp – deren Eltern inzwischen gestorben sind – hat nie Gehör für ihre These bei der Staatsanwaltschaft gefunden. Die schloss den Fall mit dem Urteil „menschliches Versagen“ ab. „Ich weiß auch, dass er sehr krank war und heftige Medikamente nahm“, sagt Marita Haverkamp. Ob sie recht hat, wird nicht zu klären sein. Was den Schadenersatz für die Betroffenen des Unglücks angeht, so hat die AKN alles übernommen. Bis heute befriedigt das Unternehmen die Ansprüche der Hinterbliebenen der Opfer und der damals Schwerverletzten, bestätigt die AKN-Sprecherin Christina Lage.

Vielleicht war Helmut P. an jenem 29. September vor 20 Jahren eine Sekunde nicht aufmerksam. Vielleicht aber kam im Kopf des Lokführer im Führerhaus seines AKN-Triebwagens im Bahnhof Bad Bramstedt an jenem 29.September gegen 15.26 Uhr alles zusammen. Die Demütigungen, die Traurigkeit, die Krankheit. Vielleicht hielt er das alles nicht mehr aus und entschied sich für ein letztes, grausames Fanal. Und fuhr einfach los.