Wie der Geselle Marius Rimpel nach drei Jahren auf der Walz in sein Heimatdorf zurückkehrt

Gut zwei Dutzend Männer, allesamt in schwarz gekleidet, laufen wie eine große Entenfamilie über die Landesstraße 234 kurz vor dem Ortseingang von Schmalfeld im Kreis Segeberg. Ob sich die Herrengruppe verlaufen hat? Man könnte es meinen, denn die Männer wechseln immer wieder die Richtung, kreuzen mehrfach die Straße, während die Autos bedrohlich nah an ihnen vorbeirauschen. Alle Männer benutzen einen Spazierstock. Und sie tragen Schlapphüte. Die Ortsjugend bei der Rückkehr von einem feucht-fröhlichen Ausflug? Nein. Es sind fast ausschließlich junge Männer. Sie singen Lieder aus ihren kleinen Büchern. Korrekt gesagt: Sie schallern.

„Frisch auf, Gesellen singt frohe Lieder, jetzt ist des Reisens wohl aller-, allerschönste Zeit. Denn es grünt und blüht in der Natur,die Bäume, Wiesen, Wald und Flur.“

(Den schönsten Frühling, den sehn wir wieder, 1. Strophe)

Denn die Männer, die da wie Enten über die Straße watscheln, sind Zimmerleute beim sogenannten Gänsemarsch. Sie nennen das auch Spinnermarsch. Eine Tradition der rechtschaffenen fremden Zimmer- und Schieferdeckergesellen, der ältesten deutschen Zunft für Handwerksgesellen. Alle Männer schallern, das heißt sie singen ihre zünftigen Gesellenlieder. Vorneweg läuft der Leithammel. Er führt den Marsch an und trägt an einem Band auf seiner Schulter eine Flasche Wein. Direkt hinter dem Leithammel läuft Marius Rimpel. Er ist der Grund, warum die Männer schallern und wie die Gänse Richtung Schmalfeld marschieren. Rimpel, 23, kurze dunkle Haare, war drei Jahre und einen Tag auf der Walz, der traditionellen Wanderschaft der Handwerksgesellen. Weltweit war der Zimmermann unterwegs.

Heute geht er nach Hause. In das Dorf Schmalfeld, das er sich 1096 Tage lang bis auf 50 Kilometer Entfernung nicht nähern durfte. So besagt es eine Regel der Vereinigung. Die Zunft hat zahlreiche Regeln. So darf ein Handwerksgeselle, der auf Wanderschaft gehen möchte, nicht älter als 30 Jahre und nicht verheiratet sein. Er darf keine Kinder haben und muss schuldenfrei sein. Neben verschiedenen äußerlichen Merkmalen zählt bei den Rechtschaffenen aber vor allem eine Regel: „Man muss ein vernünftiger Mensch sein“, sagt Marius Rimpel. Es gilt das versprochene Wort. Ehrlichkeit, Kameradschaftlichkeit, Hilfsbereitschaft. Das sind die Werte, auf die die Vereinigung besonders achtet, wenn ein Geselle bei ihr vorspricht. Rimpel hat das getan, als er seine Ausbildung zum Zimmermann beendet hatte. Er wollte raus von Zuhause. Arbeiten, sein Handwerk verfeinern und die Welt erkunden. Frei sein.

„Woll'n wir uns in die Fremde begeben, was Schön'res zu erleben. Auf das man lernet hier und dort, wie sich's gebühret am fremden Ort.“

(Frisch auf, Ihr Brüder, 1. Strophe)

An diesem Sonnabend spricht Marius Rimpel wieder vor seinen Kameraden, die ihn auf den letzten fünf Kilometern begleiten. Sie stehen jetzt mitten auf der Straße im Kreis und hören dem Mann mit dem breiten, norddeutschen Dialekt zu. Immer mehr Autos müssen bremsen, weil die Männer sich nicht fortbewegen, sich nicht stören lassen. Sie wollen Geschichten hören, bevor Rimpel die letzten Meter in sein Heimatdorf geht, wo seine Familie und Hunderte Dorfbewohner schon auf ihren verlorenen Sohn warten. Geschichten von der Walz. Der Geselle erzählt. Wie er mit einem Kameraden fünf Nächte auf einem Flughafen in Neuseeland verbrachte, weil das Geld nicht mehr reichte. Wie er in einer Winternacht unter der Plane eines Anhängers schlief, weil er keine Unterkunft mehr fand. Und wie er mit einem seiner Begleiter in eine handfeste Auseinandersetzung geriet. „Das kommt schon mal vor, wenn du 24 Stunden am Tag mit jemandem verbringst“, sagt Rimpel. Einer der Begleiter war Marc Hocke. Ein großer Mann, den die Gesellen liebevoll „Grizzly“ nennen. Er ist der Leithammel, der heute den Gänsemarsch anführt. Weiter hinten läuft Leif. Der Kamerad, mit dem sich Rimpel in den Haaren hatte. Der Streit ist längst vergessen. „Das war nach fünf Minuten wieder gut. Man geht sich halt mal auf die Nerven, wie in einer Ehe“, sagt Rimpel in seiner trockenen, pragmatischen Art.

„Drum lasst uns nicht verdrossen sein, weil wir noch jung an Jahren sein. Da draußen, da wehet ein kühler Wind. Seid lustig, seid fröhlich, Gesellen!“

(Frisch auf, Ihr Brüder, 6. Strophe)

Vor drei Jahren hat Marius Rimpel gemeinsam mit einem erfahrenen Gesellen seine Reise begonnen. In der Kneipe Jungbrunnen in der Nähe des Bahnhofs Altona starteten sie ihre Wanderschaft. Allerdings nicht mit der Bahn, denn öffentliche Verkehrsmittel sind unter Gesellen auf der Walz verpönt. Man geht zu Fuß oder reist per Anhalter. Nur die Reisen auf andere Kontinente darf man per Flugzeug zurücklegen. Immer mit dabei: der Charlottenburger. Das ist ein großes Tuch, in das der Geselle sein Werkzeug, Ersatzwäsche und einen Schlafsack wickelt, knotet, und auf dem Rücken trägt. Der Wanderstab ist der Stenz, ein geschwungener Stock, den sich die Männer selbst in der Natur suchen. Marius Rimpel war drei Jahre und einen Tag mit dem selben Stenz unterwegs. Aber heute, kurz vor der Heimkehr, geht sein Stock kaputt. Die Stenzspitze bricht ab, als der Geselle ihn in ein kleines Straßenloch drückt. Zunächst erntet er Gelächter und Schadenfreude, doch dann bekommt er von seinen Kameraden Sekundenkleber und Zahnseide. Der Stenz ist schnell repariert, die Gruppe wandert weiter.

„So der eine oder and're sich im Elend befindet, so gedenkt, was wir ihm schuldig sind. Ja, ein jeder tut, so viel er kann. Das ist die wahre Tugendbahn.“

(Den schönsten Frühling, 2. Strophe)

Rund 300 Gesellen aus den verschiedenen deutschen Vereinigungen sind derzeit auf Wanderschaft. Fast ausschließlich Männer. Frauen sind in den großen Vereinigungen bis heute nicht zugelassen. So besagt es die mittelalterliche Tradition. Meist sind die Wanderer zu zweit unterwegs. Auch Marius Rimpel hatte meist einen Begleiter dabei. Irgendwann trennen sich die Wege, denn jeder Geselle hat seine eigenen Ziele. Neue Begleiter lernt man aber schnell in den Herbergen kennen. Deutschlandweit verteilt gibt es diese Gaststätten für die Handwerker. Hier finden die Wanderer einen Schlafplatz. Zudem erfahren sie, wo in der Gegend Arbeit zu finden ist. Die Walz ist schließlich keine Vergnügungsreise. Im Gegenteil. Die Gesellen müssen sich ihr Reisegeld verdienen. Brauchen sie eine Arbeit, sprechen sie bei einem Meister vor. Dieser beschäftigt die Handwerker dann für mehrere Wochen. Marius Rimpel arbeitete lange in der Schweiz. Dort baute er unter anderem eine Turnhalle. „Man kann auf der Walz handwerklich unheimlich viel lernen“, sagt Rimpel.

„Wir hobeln, wir sägen, wir stemmen dabei. Die Arbeit sie ist uns ja ganz einerlei, wir versaufen den Rock, aber niemals den Hut. Hoch lebe der Mann mit dem Hut! Hoch lebe fremd Zimmermannsblut!“

(Frisch auf, Ihr Brüder, 3. Strophe)

In den Herbergen treffen die Gesellen sich regelmäßig zum gemeinsamen Abend. Es wird dann viel Bier getrunken. Es gibt „Köm und Tabak“. Köm, ein norddeutscher Aquavit, steht stellvertretend für Schnaps. Und Schnupftabak gehört quasi zur Grundausstattung der Gesellen. Zünftig feiern, das können sie. Aber am nächsten Morgen, sofern sie überhaupt geschlafen haben, stehen sie wieder in ihrer Kluft und arbeiten.

Sechs Knöpfe zieren das Jackett der Zimmermänner. Sie symbolisieren sechs Tage Arbeit, von denen dank der Gewerkschaften heute aber nur noch fünf gelten. Auf die schwarze Weste sind vorne acht Knöpfe genäht. Sie stehen für acht Stunden Arbeit am Tag. Zu der traditionellen Kluft, die sich der Geselle vor der Wanderschaft kaufen muss, gehören zudem der Schlapphut, die Schlaghose, schwarze Schuhe und ein weißes Hemd, das sich Staude nennt. Darüber trägt er die sogenannte Ehrbarkeit, eine Art Krawatte. Sie muss immer, auch während der Arbeit, getragen werden. An der Farbe der Ehrbarkeit erkennt man die Zugehörigkeit zum jeweiligen Schacht, zur Handwerkervereinigung. Die rechtschaffenen fremden Zimmer- und Schieferdeckergesellen tragen eine schwarze Ehrbarkeit. Ein weiteres Merkmal ist der Ohrring. Er ist aber keine Pflicht. Marius Rimpel trägt keinen mehr, seit sich sein Ohr entzündete.

„Dieses alles schad't mir nicht, wie so mancher Bauernlümmel spricht. Denkst du, wir reisen darum, dass wir schöne Weiber bekomm'n? Nein, wir reisen dessenwegen, Städt' und Länder zu beseh'n.“

(Ist das nicht fein, ist das nicht fein, 2. und 3. Strophe)

Auf der Straße stehen die Männer nun schon fast zehn Minuten im Kreis. Die Schlange der Autos reicht bis in die nächste Kurve. 50 Meter weiter ist die Ortsgrenze von Schmalfeld. Rund 300 Menschen, darunter der Bürgermeister, warten dort auf ihren „Mucki“. Das ist der Spitzname von Marius Rimpel. Doch „Mucki“ muss zunächst noch die Flasche Wein austrinken, bevor er seine Familie und seine Freundin Lena wiedersieht. Sie hat der Geselle gleich im ersten Jahr seiner Wanderschaft in Osnabrück kennengelernt. Seitdem haben sich die beiden immer wieder mal gesehen, meistens mussten sie sich aber mit einem Telefonat begnügen. Doch auch das ist als Zimmermann auf der Walz schwierig. Die Vereinigung verbietet es, ein Handy mitzunehmen. Auch Facebook ist tabu. E-Mails schreiben ist dagegen erlaubt. So konnte sich Rimpel auch aus Neuseeland, Norwegen oder der Schweiz bei seiner Familie melden.

Heimweh hat der Geselle aber nie verspürt. „Es gab keinen Moment, in dem ich zurückwollte“, sagt er. Aber nun, wenige Meter vor dem Dorf, ist Rimpel schon „ein bisschen aufgeregt“. Er nimmt den letzten Schluck Wein und geht los. Seine Mutter Katja kommt ihm entgegen. „Moin“, sagt der Geselle. „Mein Junge“, sagt die Mutter. Auch Bürgermeister Klaus Gerdes ist begeistert, denn fast das ganze Dorf ist da, um Rimpel zu begrüßen. „So etwas habe ich hier noch nie erlebt“, sagt er. Alle Bewohner jubeln dem Gesellen zu. Nur einer bleibt ganz ruhig: Marius Rimpel. Der Geselle, der vor 1096 Tagen als Junge ging. Und der nun, so beschreibt es die Mutter, „als Mann zurückgekehrt ist“.

„Seid's frisch, seid's froh, Gesellen, Brüder, die Stunde schlägt, wir sein's bereit. Verflossene Zeiten kehren niemals wieder, vergangen ist die wohl aller-, allerschönste Zeit.“

(Den schönsten Frühling, 4. Strophe)