Kirsten Fehrs kritisiert Aufarbeitung des Missbrauchsskandals in Ahrensburg und stellt die Schweigepflicht infrage. Sie rief zudem dazu auf, Courage bei Verdachtsfällen zu zeigen.

Travemünde. In einem schwarzen Kostüm trat Bischöfin Kirsten Fehrs vor das Rednerpult, um eine fast einstündige Rede zu halten. Es herrschte unter den Synodalen der Nordkirche, die am Wochenende in Travemünde tagten, absolute Stille. Auch nach dem Bericht der Hamburger und Lübecker Bischöfin schwiegen die Kirchenparlamentarier: Es gab keinen Applaus.

Zu ernst war das Thema, zu stark die Betroffenheit, so tief noch immer die Scham über die Missbrauchsfälle in der evangelischen Kirche – vor allem in der Kirchengemeinde Ahrensburg. Rund vier Jahre nach dem Bekanntwerden dieser Fälle, die juristisch alle verjährt sind, legte die Bischöfin jetzt erstmals einen umfangreichen öffentlichen Bericht über das System Missbrauch in der Institution Kirche vor. Darin beklagte sie das Versagen der Kirche in der Aufarbeitung dieses Skandals, bei dem ein inzwischen aus dem Dienst entlassener Pastor mehr als 20 Jahre lang Jugendliche in einer „letztlich unbekannten Anzahl“ sowie Familienmitglieder sexuell missbraucht hat.

„Vertuschung“, sagte sie, „ist seither das Wort, das an der Kirche klebt.“ Das werde man schwer wieder los. Es fehlten „definitiv“ die Akten im Kieler Kirchenamt, nachdem der Täter im Jahr 1999 versetzt worden war. Nach Angaben der Bischöfin, die viele Stunden lang den traumatisierten Opfern sexueller Gewalt in der Kirche zuhörte, hätten die Täter selten einzeln agiert. Sie nutzen, so die Erfahrungen aus dem Ahrensburger Fall, ein System, das sie zu „ihrem Schutz aufbauen und das ihnen zuspielt“. Die sexuellen Übergriffe unter dem Dach der Kirche ereigneten sich dem Bericht zufolge bereits Mitte der 1970er-Jahre. Es waren mehr Jungen als Mädchen betroffen.

Der Missbrauch begann mit Flirts, Tätscheleien, angeblichen Gesprächstherapien, und er ging über zu Tätlichkeiten, Oralverkehr, Geschlechtsverkehr. Oft ereigneten sich die Übergriffe bei besonderen Gelegenheiten. Etwa dann, wenn der Pastor den einen Jungen zum Musikunterricht fuhr oder dem anderen bei den Schulaufgaben half. Bischöfin Fehrs: „Und der dritten schwor er ewige Liebe, sie sei die einzige Frau, die ihn glücklich mache. Das Spiel mit der Abhängigkeit war ein perfides. Wer sich nicht wehrte, war drin im System.“ Mit dem Schweigegebot seien sie unter Druck gesetzt worden. Bischöfin Fehrs regte deshalb auch einen neuen Umgang mit der Schweigepflicht von Seelsorgern an.

Der Pastor hatte gerade jene Jugendlichen missbraucht, die persönlich in einer Krise steckten. Es waren die „Dünnhäutigsten“, sagte die Bischöfin. Zwischen den Ahrensburger Fällen und dem Missbrauch in der Odenwaldschule gibt es nach Ansicht von Kirsten Fehrs erschreckende Parallelen: Beide Lernorte waren der Reformpädagogik verpflichtet. „Unter der Maske der Fortschrittlichkeit geschieht sexualisierte Gewalt.“ Und immer habe Alkohol als Stimulanz eine große Rolle gespielt.

Von weiteren sexuellen Missbrauchsfällen in anderen Kirchengemeinden berichteten schließlich Michael Rapp und Kai Greve. Sie gehören der kirchlichen Kommission für Unterstützungsleistungen für Missbrauchsopfer an. Die Experten berichteten von einem schwer traumatisierten Opfer, das von einem Küster sieben Jahre lang missbraucht wurde. Und von einem Kind, das – inzwischen erwachsen – trotz allem der Kirche als Institution vergeben konnte. Ein so genannter Versöhnungsgottesdienst für Missbrauchsopfer ist am 25. Juni in der Hamburger Hauptkirche St. Katharinen geplant.

An die Kommission für Unterstützungsleistungen hat sich rund ein Dutzend Betroffener gewandt. „Sie kommen aber nicht nur aus der Ahrensburger Kirchengemeinde, sondern auch aus anderen Orten“, sagte Bischöfin Fehrs dem Abendblatt. Ziel des Angebots seien materielle und nicht-materielle Unterstützungen. Finanziert würden beispielsweise Therapien. Um Missbrauch in der Kirche auszuschließen, hat die Nordkirche die Kriminologin Alke Arns zur Präventionsbeauftragten berufen. Der kritische Blick auf die eigenen Strukturen sei eine notwendige Voraussetzung, sagte die Expertin.

Bischöfin Fehrs rief in diesem Zusammenhang dazu auf, Courage bei Verdachtsfällen zu zeigen. Wenn ein Amtsträger tue, was nicht sein dürfe, müsse er, der Dienstvorgesetzte und die Präventionsbeauftragten angesprochen bzw. informiert werden. Als weitere Maßnahme hat die Nordkirche eine Unabhängige Expertenkommission eingesetzt, die intensiv das System Missbrauch in der Evangelischen Kirchengemeinde Ahrensburg und die Rolle der Kirchenleitung untersuchen soll. Eigentlich war die Veröffentlichung des Berichts im Januar geplant.

Doch angesichts der umfangreichen Recherchearbeit soll er erst im Juni 2014 vorliegen. Anselm Kohn, Gründer des Vereins „Missbrauch in Ahrensburg“, kündigte an, die Aufarbeitung in der Nordkirche weiter kritisch zu beobachten. Der „Evangelischen Zeitung“ sagte er: „Sollte der Eindruck entstehen, dass die daraus abzuleitenden Maßnahmen komplett schief liegen, könnten die Mitglieder den Verein auch jederzeit wieder aufleben lassen.“