Ein Jahr nach der Niedersachsenwahl regiert die rot-grüne Koalition problemlos mit ihrer Einstimmenmehrheit. Doch Lehrer und Bauern sind aufgebracht. Ein Rückblick auf das erste Regierungsjahr.

Hannover. Mehr Spannung geht nicht: Am Wahlabend 20. Januar 2013 sahen die Demoskopen ab 18 Uhr in allen Hochrechnungen CDU und FDP hauchdünn vorn – aber das vorläufige amtliche Endergebnis bedeutete dann den Machtwechsel in Niedersachsen. Ein Jahr danach ist klar, dass SPD und Grüne mit ihrer Einstimmenmehrheit umgehen können. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass CDU-Fraktionschef Björn Thümler seine Partei neuerdings als Regierungspartner für den Fall andient, dass es bei Rot-Grün kracht.

Die niedersächsische Politik ist erkennbar im Alltag angekommen. Beim traditionell wichtigsten Themenfeld Bildung liegen nach einem Jahr Licht und Schatten nah beieinander. Wie versprochen schafft Niedersachsen als letztes Bundesland die Studiengebühren ab, es fließt deutlich mehr Geld für Kitas und Ganztagsschulen, die Gründung neuer Gesamtschulen zum nächsten Schuljahr 2014/2015 wird deutlich erleichtert.

Andererseits hat die Landesregierung die Gymnasiallehrer gegen sich aufgebracht durch die um eine auf 24,5 Stunden erhöhte Stundenzahl. Und das frühere Versprechen, die Altersermäßigung auszubauen, wurde gebrochen. An jedem zweiten Gymnasium im Land verweigern die Lehrer deshalb Klassenfahrten und Arbeitsgemeinschaften. Und mindestens bislang weicht die Landesregierung jeder Diskussion bei zwei weiteren Problemfällen aus: Wegen der demografischen Entwicklung müssten eigentlich Grundschulen geschlossen werden, und die Zahl der Anmeldungen an den Hauptschulen ist auf fünf Prozent der Schüler eines Jahrgangs gesunken. Wer dort landet, ist als „Loser“ abgestempelt. Aber Niedersachsen leistet sich als einziges Bundesland im Norden weiterhin den Wildwuchs einer Schullandschaft mit Hauptschulen, Realschulen, Oberschulen, Gymnasien und Gesamtschulen. Hamburg etwa kennt nur noch zwei Schulformen.

So wie sich der abgelöste CDU- Ministerpräsident David McAllister durchgestylt präsentierte und im Wahlkampf mit seiner Herkunft als Halbschotte kokettierte, so betont bodenständig agiert jetzt sein SPD-Nachfolger Stephan Weil. Allerdings wirkt sein Auftreten manchmal, als wolle er das gewohnte Biotop des Oberbürgermeisters von Hannover, wo die SPD unangefochten seit 1945 vorn liegt, auf das ganze Land mit acht Millionen Einwohnern übertragen.

Die neue rot-grüne Landesregierung hat alle Ziele für den raschen stufenweisen Abbau der Neuverschuldung zurückgeschraubt – trotz rekordverdächtig schnell wachsender Steuereinnahmen und sinkender Zinslasten für die alten Schulden. Dem kleinen grünen Regierungspartner ist geschuldet, dass künftig mehr Geld in den öffentlichen Personennahverkehr fließt als für die maroden Straßen. Wie künftig die Fördermittel von Europäischer Union, Bund und Land auf die einzelnen Regionen des Landes verteilt werden, darüber wird weiter beraten. Dies gilt auch für die Frage nach einer Rückkehr zum Abitur nach neun statt jetzt acht Jahren, für die Reform des Richterwahlgesetzes und viele weitere Projekte. Und der Bau der Küstenautobahn liegt faktisch auf Eis. Das gilt als Preis für den Koalitionsfrieden.

SPD und Grüne haben sich eingerichtet und die große Oppositionspartei CDU macht es ihnen leicht. Vielleicht muss der gescheiterte Spitzenmann McAllister im Mai erst ins Europaparlament gewechselt sein, damit die CDU aufhören kann, mehr beleidigt als systematisch die Oppositionsrolle anzunehmen. Dazu würde auch die Einsicht gehören, dass die Affäre Paschedag nicht ausreicht, um die Landesregierung nachhaltig zu destabilisieren. Den Agrarstaatssekretär Udo Paschedag hat der Regierungschef Weil im Spätsommer gefeuert, weil der sich vorbei an allen Richtlinien einen zu großen Dienstwagen bestellte und nach eigener Aussage dann auch noch wahrheitswidrig behauptete, Weil und der grüne Agrarminister Christian Meyer hätten den Kauf abgesegnet.

Peinlich für die Landesregierung: Sie ist durch Mangel an Kommunikation und Sensibilität regelrecht in diese Miniaffäre hineingestolpert, obwohl doch die Staatskanzlei sich inzwischen zur Superkontrollbehörde für den gesamten Regierungsapparat entwickelt – zahlreiche neue Stellen für Personal inklusive.

Der kleine Regierungspartner genießt derweil und schweigt meistens. Drei Minister stellen die Grünen, also gibt es viele Posten, aber eben auch Gelegenheiten, sich zu verstolpern. Justizministerin Antje Niewisch-Lennartz blamiert sich gerade mit einem Luxusproblem: Es gibt zu viele Gefängnisse, weil die Niedersachsen so brav sind. Aber so wie SPD-Kultusministerin Frauke Heiligenstadt die Gymnasiallehrer gegen sich aufgebracht hat, stößt sie jetzt die Justizvollzugsbeschäftigten vor den Kopf durch einsame Entscheidungen über die Schließung von Haftanstalten.

Der grüne Agrarminister Meyer ist eine von zwei Ausnahmen von der Regel einer eher farblosen Ministerriege: Er provoziert zur Freude seiner Klientel die Bauern mit massiven Vorwürfen und immer neuen bürokratischen Einschränkungen. Und auch Innenminister Boris Pistorius (SPD) setzt sich in Szene. Das gilt nicht nur für die Flüchtlingspolitik, sondern auch bei der Reform des ziemlich skandalträchtigen Verfassungsschutzes. Sollte sich die Frage nach einem Nachfolger für Regierungschef Stephan Weil stellen, ist er derzeit wohl der einzige respektable Kandidat.

Und die FDP genießt: Mit seiner völlig aus dem Ruder gelaufenen Zweitstimmenkampagne hat McAllister den Liberalen bei der Landtagswahl im Januar vergangenen Jahres zu 9,9 Prozent der Stimmen und 14 Mandaten verholfen. Mag die Bundespartei nun nach dem Rausschmiss aus dem Bundestag am Boden liegen, die FDP-Fraktion im Landtag hält es so, wie es vor dem Wahlsieg die Grünen mit der SPD gemacht haben: Die Kleinen zeigen den Großen auch am Rednerpult, wie solide Oppositionsarbeit aussieht.