Aus Lebensmittelwerk in Bad Fallingbostel tritt Giftgas aus, 1200 Menschen müssen ihre Häuser verlassen. Die Chronik des Einsatzes.

Bad Fallingbostel. Stephan Meier hat so etwas noch nicht erlebt. Waldbrände, gelegentlich ein Hochwasser, damit haben die freiwilligen Feuerwehren im Heidekreis schon mal zu kämpfen. "Dieser Einsatz", sagte der Feuerwehrsprecher gestern Mittag, "sprengt jede Dimension." Er ist fast 24 Stunden auf den Beinen.

Der Einsatz ist ein Chemieunfall, wie ihn Bad Fallingbostel noch nicht erlebt hat. Ein Unfall, der die Kreisstadt und den Verkehr um den Ort praktisch lahmgelegt hat. Und der rund 1200 Bewohner zum Verlassen ihrer Häuser und Landrat Manfred Ostermann (parteilos) zum Auslösen des Katastrophenalarms gezwungen hat.

Die schwere Panne ereignete sich bereits am Montagmittag im Werk des Lebensmittelkonzerns Kraft Foods, als versehentlich ein Reinigungsbehälter mit Natronlauge und Salpetersäure befüllt wurde. Beide Chemikalien werden routinemäßig zur Reinigung der Behälter verwendet - allerdings stark verdünnt und nicht, wie am Montag, hochkonzentriert. Vermischen sich Lauge und Säure, können die Chemikalien reagieren und ätzende Nitrose-Gase freigesetzt werden. Um das zu verhindern, beginnt die Feuerwehr am Montagabend damit, zunächst die Salpetersäure aus dem Tank abzupumpen. Doch dabei geht etwas schief: Beim Abfüllen in einen dafür ungeeigneten Zwischenbehälter steigt eine bräunliche Giftwolke hoch, die durch den Einsatz von Wasserwerfern rasch eingedämmt werden kann - verletzt wird niemand. In der Nacht zum Dienstag pumpen die Feuerwehrleute die Chemikalie dann weiter ab. Alles läuft nach Plan.

Bis Dienstagmorgen.

Die Feuerwehr spricht gerade vorsichtig von Entwarnung, als gegen sieben Uhr die Hiobsbotschaft eintrifft: Die Temperatur in dem Behälter sei angestiegen, auf kritische 107 Grad Celsius - für die Experten ein sicheres Zeichen dafür, dass die Chemikalien miteinander reagieren. "Es ist leider so, dass der Behälter bersten könnte", sagt ein Sprecher. 10 000 Liter Natronlauge und 14 000 Liter hochkonzentrierte Salpetersäure lagern in dem Tank. Unten die Lauge, oben die Salpetersäure, zwischen beiden Chemikalien hat sich durch Reaktion eine trennende Salzschicht gebildet. Doch die Feuerwehrleute wissen: Wenn der Kunststoffcontainer schmilzt und sich die Stoffe vermischen, könnten erneut ätzende Nitrose-Gase freigesetzt werden, die im günstigsten Fall nur die Atemwege reizen, im schlimmsten Fall aber ein tödliches Lungenödem verursachen.

Damit die Temperatur nicht weiter steigt, feuern mehrere Wasserwerfer aus allen Rohren auf den Behälter, der in einer Halle steht. "Wir brauchen Wasser, massig Wasser", sagt Feuerwehrsprecher Meier. Als die Temperatur tatsächlich sinkt, wagen die Männer einen neuen Anlauf. Jetzt soll die Natronlauge von unten in ein firmeninternes Kanalsystem abgelassen werden. Doch die Lage ist weiter kritisch, so gefährlich, dass sich ein Großteil der Kräfte auf den Parkplatz eines nahen Supermarktes zurückzieht. Auf dem Kraft-Gelände bleiben nur noch 25 Feuerwehrleute, die auf Chemieunfälle spezialisiert sind. Sie müssen alle 20 Minuten ausgewechselt werden. Stadtbrandmeister Thomas Tödter ist einer der Männer, die bei dem Einsatz ihr Leben riskieren. Sie fixieren am Behälter die Schläuche, durch die rund 3000 Liter der Chemikalie pro Stunde abgeleitet werden. Sie arbeiten unter Atemschutz, allein ihre Schutzmontur wiegt rund 20 Kilogramm. Nach 15 Minuten an der Gefahrenstelle ist die Atemluft fast verbraucht. Ein Knochenjob.

Belastend ist die Situation auch für viele der 1200 Menschen, die in einem Umkreis von 500 Metern um das Werk leben und ihre Häuser aus Sicherheitsgründen verlassen mussten. Auch 400 in Fallingbostel stationierte britische Soldaten werden in Sicherheit gebracht. 550 Bewohner kommen in Turnhallen unter. Eine davon ist die Heidmark-Halle am Stadtrand. 200 Menschen warten dort. Mittendrin sitzt Erika Feick hinter einem Biertisch, die Hände vor sich gefaltet, und lächelt das müde Lächeln einer Frau, die sich ihrem Schicksal ergeben hat. Es ist ihr 80. Geburtstag, und Erika Feick sagt: "So habe ich ihn mir nicht vorgestellt." Ein Helfer vom Roten Kreuz hat ihr einen Schokoriegel geschenkt. "Um Mitternacht", sagt Erika Feick, "da hat der ganze Saal ein Lied für mich gesungen: Happy Birthday."

Mitternacht ist um diese Zeit schon mehr als einen halben Tag lang vergangen. Und dass sie hier alle darauf warten, nach Hause zurückkehren zu dürfen, ist noch viel länger her. Gegen 18 Uhr, erinnert sich Feicks Tochter Bianca Tiko, 43, seien die Busse zu ihnen in die Weinberg-Siedlung gekommen. "Wir mussten einsteigen. Und weg", sagt die Kirchensekretärin. Vielen Menschen ist keine Zeit mehr geblieben, auch nur das Nötigste einzupacken. Da sie seit mehr als 16 Stunden in der Halle ausharren, wird der Mangel an allem, was man in so einer Situation gern bei sich hätte, überdeutlich. Zigaretten zum Beispiel. Oder Strom fürs Handy. Die meisten Mobiltelefone sind längst aus, ein Ladegerät hat kaum jemand mitgenommen. Der Draht zur Außenwelt, zu Freunden, Verwandten und Arbeitgebern, ist abgeschnitten.

Und weil fast alle mit dem Bus in die Sammelstellen gebracht worden sind, kommen sie auch nicht mehr weg von dort, um beispielsweise arbeiten zu gehen. "Und wenn schon", sagt Erzieherin Nadine Barz, 27. "Ich habe jetzt seit mehr als 24 Stunden dieselben Klamotten an und kann mich nirgendwo zurechtmachen." Wie gut, dass es wenigstens genug zu essen gibt.

Helfer schenken kalte und warme Getränke und Suppe aus. Sogar Hundefutter haben sie dabei. Innerhalb kürzester Zeit sind allein in der Heidmark-Halle gut 200 Schlaf- und 700 Sitzplätze aufgebaut worden. "Das ist 'ne Nummer", sagt Thomas Bösewill, stellvertretender Sprecher der Heidekreis-Feuerwehren, "so was haben wir immer nur geübt. Erlebt habe ich es noch nie."

Die Stadt wirkt am Dienstagmorgen wie ausgestorben, kaum ein Geschäft hat geöffnet, vor einer verwaisten Tankstelle hängt rot-weißes Flatterband. Die Polizei hat den Ort weiträumig abgeriegelt und die A 7 im Bereich Walsrode in beide Richtungen voll gesperrt. Auch der Bahnverkehr auf der Strecke zwischen Soltau und Walsrode ist eingestellt. Alle Kindergärten und Schulen bleiben geschlossen.

Nach Stunden der Angst zahlt sich die Mühe der Retter aus: Gegen kurz vor 17 Uhr wird der Katastrophenalarm aufgehoben, die Bewohner dürfen in ihre Häuser zurückkehren. Schon jetzt ist klar, dass der Unfall einen immensen Schaden verursacht hat. Zeitweise sind fast 1000 Rettungskräfte im Einsatz: Angehörige der freiwilligen Feuerwehr, Polizisten, die Johanniter, das DRK, die DLRG, ABC-Soldaten der Bundeswehr, die Wärmezelte zur Verfügung stellen, und ein Umwelt-Expertenteam der Hamburger Feuerwehr. Ob der Heidekreis Kraft Foods in Regress nehmen wird, ist unklar. Grundsätzlich müsse erst mal der Landkreis, der den Katastrophenalarm ausgelöst hat, für die Schäden aufkommen. "Wer die Musik bestellt, bezahlt", sagt Landrat Manfred Ostermann. Alles Weitere müsse im Gespräch mit Kraft geklärt werden.