Hier herrscht unaufgeregte Normalität statt Urlaubsbetriebsamkeit. Die Insel Poel ist ländlich und sich dabei aber selbst treu geblieben.

Insel Poel. Zwei Buchstaben können manchmal ganz schön was ausmachen. Um es gleich zu Beginn klarzustellen: Wir sind in Timmendorf Strand - und nicht in Timmendorfer Strand. "Das ist ein himmelweiter Unterschied", sagt Klaus Niebel. Gemeinsam mit seiner Ehefrau Beate sitzt er im weichen Sand in Poels äußerstem Westen. Vor ihm schwappt träge die Ostsee an den Strand, nebenan manövrieren die Segler ihre Yachten in den kleinen Hafen mit dem unverwechselbaren Leuchtturm. Früher, sagt der 63-Jährige, der lange in Hamburg gelebt hat, sei er oft in der Lübecker Bucht gewesen, in Timmendorfer Strand. Jetzt fahren die Niebels nach Timmendorf Strand in Mecklenburg. "Hier ist es gemütlicher, viel uriger. Und die Preise sind moderat. Uns gefällt es besser."

Das hören die Poeler natürlich gern. Überhaupt scheuen die Insulaner den Vergleich mit dem Fast-Namensvetter im Westen nicht. "Das ist wie mit den Äpfeln und den Birnen", sagt Kurdirektor Markus Frick. Der Mann weiß, wovon er spricht, er ist in Eutin aufgewachsen, nicht weit von Timmendorfer Strand. "Das ist das mondäne Seebad, die Badewanne Hamburgs mit Café Wichtig, wo es um Sehen und Gesehenwerden geht. Wir sind anders." Authentisch sei die Insel mit ihren kleinen Örtchen, echt und ehrlich. Es gibt viel grünes Land und wogende Kornfelder, umgeben von Schilfgürteln und Salzwiesen, sanft abfallende Strände. Unverbaut. Viel Platz, auch in der Hauptsaison. In der Sprache der Fremdenverkehrsexperten nennt man das "ländlichen Badetourismus". Frick, der vor 17 Jahren nach Poel kam und blieb, sagt selbstbewusst: "Wir haben unsere Nische gefunden." Was nicht heißt, dass in den vergangenen Jahren nichts passiert ist.

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Zurück nach Timmendorf Strand, den beliebtesten Badeort des 37 Quadratmeter großen Ostsee-Eilands. In der DDR-Zeit bot hier der große Campingplatz sonnenhungrigen Werktätigen des Arbeiter- und Bauernstaats die Chance auf ein paar Tage am Meer. Sonst gab es nicht viel. Der Campingplatz existiert nach wie vor, modernisiert mit 600 Stellplätzen. Drum herum ist ordentlich gebaut worden. Den Weg vom Parkplatz zum Strand säumen Ferienhäuschen aus Backstein oder mit Reetdach. Es gibt inzwischen auch einige größere Häuser mit Ferienwohnungen. Immer noch ist der 1871 in Betrieb gestellte Leuchtturm der Mittelpunkt - alles andere passt sich an. Die Fehler anderer Ostseebäder, die in der Euphorie der Nachwendezeit auf forsche Investoren statt auf Stil und Zukunftsfähigkeit setzten, haben die Poeler nicht gemacht.

Auch Kirchdorf, der Hauptort der Insel mit ihren insgesamt knapp 3000 Einwohnern, hat seinen dörflichen Charakter bewahrt. Jeder kennt jeden, im Zweifelsfall haben schon die Eltern zusammen in der Sandkiste gespielt und die Kinder und Enkel. Das verbindet. Auch Urlauber - zumindest die, die nicht zum ersten Mal da sind - werden gegrüßt. Man trifft sich beim Insel-Bäcker, im Gasthaus Zur Insel oder beim Schlendern am Hafen, der an einem Meeresarm mit dem bezeichnenden Namen Kirchsee liegt. Eine größere Appartementanlage ist dort entstanden. Ab Herbst soll nach zähem Ringen und schwierigen Abstimmungen mit Vogelschutzrichtlinien eine neue Promenade gebaut werden, auch mit einigen Geschäften. Investitionsvolumen: 15 Millionen Euro. Allen gefällt das nicht.

Jetzt stehen auf dem Areal noch einige Fischerschuppen. Vor einem sitzt Arno Gössel und zieht Nägel aus alten Holzplanken. Tagsüber trifft man den 83-Jährigen meist hier oder an seinem flachen Boot ein paar Schritte weiter. Sein Leben lang hat er gefischt, Butt, Hering, Dorsch - und natürlich Poeler Krabben, eine lokale Delikatesse. Genau wie sein Vater, sein Großvater, sein Urgroßvater und viele andere Poeler. Tempi passati! (Vergangene Zeiten!)

Im Inselmuseum hängen ihre wunderbar sprechenden Bildnisse aus der Sammlung Karl Christian Klasen. "Von der Fischerei kann man nicht mehr leben", sagt Gössel nüchtern. Er ist längst Rentner, einen Nachfolger hat er nicht. Die "Kumm weder", der Kutter, mit dem er Jahrzehnte für die Fischgenossenschaft unterwegs war, liegt fest vertäut an der Kaimauer - als Stätte für den Verkauf von Räucherfisch an Touristen. Aber an diesem Nachmittag will er noch mal selbst raus, Schollennetze auslegen. Es ist einfach so drin. Und dass sein Schuppen weg soll, sei noch nicht ausgemacht. "De bliwt", macht er klar. Natürlich auf Platt.

Auf der Insel fließt das Leben wie ein langer ruhiger Fluss. Unaufgeregte Normalität statt Urlaubsbetriebsamkeit. Die Strände, außer Timmendorf in Gollwitz und Schwarzer Busch, sind nur ganz selten richtig voll. Daran ändern auch die 660.000 Übernachtungen nichts, die Kurdirektor Frick auf Mecklenburgs größter Insel im Jahr zählt. 5,5 Tage bleiben die Gäste im Schnitt. Die meisten in Ferienhäusern und -wohnungen. Hotels gibt es kaum, beliebt sind Unterkünfte in Gutshäusern und auf den beiden Reiterhöfen.

Auch die Segler haben die geschützten familiären Häfen in Timmendorf Strand und Kirchdorf mit insgesamt 100 Liegenplätzen entdeckt. Für alle anderen ist die beste Art, sich zwischen den 15 Inselorten zu bewegen, das Radfahren. Vor allem im Mai ist das eine Sinfonie für die Sinne, wenn der Raps - die Poeler Wappenblume - in Blüte steht. In den vergangenen Jahren ist das Wegenetz ausgebaut worden. Autofahren lohnt sich angesichts der kurzen Entfernungen oft nicht. Eine Tankstelle gibt es gar nicht erst.

Die Poeler sind eine Sorte für sich und haben ihren eigenen Kopf. Auch die Jüngeren. Kathy Gordon zum Beispiel. Die gebürtige Poelerin, die lange in Hamburg gearbeitet hat, kam 2000 auf die Insel zurück. Mit Ehemann Andy, einem Australier, und Sohn Laurens zog die gelernte Restaurantfachfrau und Buchhalterin in das Haus ihrer Großmutter in Oertzenhof. Nachdem sie das ehemalige Gutsverwalterhaus liebevoll renoviert hatten, langweilte sie sich. "Da habe ich beschlossen, ein Café aufzumachen", erzählt sie. Nach einem Probejahr eröffneten die Gordons im Januar 2010 das Café Frieda - benannt nach der früheren Besitzerin - im ehemaligen Schweinestall. Das stilvolle Kaffeehaus würde auch nach Berlin, Hamburg oder London passen - und war sofort ein voller Erfolg. "So etwas gab es nicht auf Poel." Weit über die Inselgrenzen hinaus sind die Torten der patenten Insulanerin bekannt. Inzwischen backen drei Nachbarinnen mit, so groß ist der Andrang. "Die schmecken alle gut", sagt Joachim Weidemann unter einem Sonnenschirm im romantischen Garten, "aber am besten ist die Stachelbeertorte." Dafür kommt er extra aus Wismar. Immer wieder.

Andere fahren noch weiter. Im ersten Stock ist eine Galerie, es gibt ein Programm mit wechselnden Veranstaltungen, wie etwa Schmuck-Workshops, kulinarischen Lesungen oder einer Tauschparty mit Prosecco und Fingerfood. "Eigentlich wollte ich ja nur ein kleines, nettes Café aufmachen", sagt die Chefin und lacht. "Ich habe nicht geahnt, dass es sich so entwickelt." Es zeige aber auch das Potenzial Poels. Neben Familien und der Generation 60 plus kämen viele junge Leute zum Segeln oder Surfen, hat sie beobachtet "Wir sind eben nicht nur die Insel der Stille." Auch Künstler zieht es nach Poel.

"Das Schöne ist, dass das meiste geblieben ist", hat das Ehepaar Niebel im Sand am Strand in Timmendorf gesagt. "Zum Glück."