Serie Meer-Sonne: Helgoland ist Deutschlands einzige Hochseeinsel - ein Urlaubsort mit Robinson-Charme und ein Fluchtpunkt zu innerer Einkehr.

Helgoland. Eben noch war das Wasser der Elbmündung schmutziggrau. Jetzt stampfen die Kufen desInsel-Katamarans durch blaues, fast türkisfarbenes Wasser. Darüber ein wolkenzerfetzter Himmel, wie ihn Marinemaler gerne malen. Nordwest vier bis fünf Windstärken, für den "Halunder Jet" eigentlich noch kein Problem. Das sanfte Ruckeln auf der Fahrt von Hamburg hierher ist jedoch in ein deutliches Stampfen übergegangen.

Zwei, drei Passagiere eilen mit starrem Blick nach draußen aufs Deck an die Reling. "Sie lassen sich die Fahrt noch einmal durch den Kopf gehen", sagt man auf Helgoland, der roten Felseninsel, die in einer knappenStunde erreicht sein soll.

Es ist das letzte Stück der Reise, die an einigen Tagen im Jahr so spürbar macht, dass man sich mit dem Ziel Helgoland tatsächlich vom Festland verabschiedet. Hamburger Loch sagen die Insulaner zu diesem letzten Teil der Passage, die im offenen Meer liegt. Dort, wo der Wind die Wellen aufbauen kann, wo das Wasser schon ozeanblau ist und sich die Handynetze einstweilen verabschieden.

"Kein Netz", diese Meldung könnte ein Synonym sein für den Aufenthalt auf Deutschlands einziger Hochseeinsel. Auch wenn man dort dann wieder Empfang hat. Kein Netz bedeutet aber keine Verbindung, jedenfalls nicht über Land, wie es Sylt mit seinem Damm hat.

Kein Netz meint auch keine Sichtverbindung mehr dorthin, vielleicht auch keine Verbindung mehr zum sonstigen Alltag. Kein Netz zum anderenLeben eben, Helgoland ist wirklichInsel. Autofrei, staubfrei, pollenfrei, stressfrei, wie Helgolandfans sagen. Helgoland ist "inseliger", so lautet der neue Slogan von Tourismus-Chef Klaus Furtmeier. Insel stecke in dem Wort und selig, von "die Seele baumeln lassen", sagt er. Ob's stimmt?

Gute dreieinhalb Stunden nachdem der "Halunder Jet" in Hamburg abgelegt hat, ragt vor dem Schnell-Katamaran Helgoland auf. 60 Meter in seiner größten Höhe, ein schroffer Felsen, ein Gebirge mitten auf See:

Irgendwo ins grüne Meer hat

Ein Gott mit leichtem Pinsel,

Lächelnd, wie von ungefähr,

Einen Fleck getupft: die Insel.

Das hat der von Helgoland stammende Schriftsteller James Krüss geschrieben. Die romantische Erklärung sozusagen, der man jetzt von Bord sofort zustimmen würde. Die geologische Variante ist aber auch nicht unspannend: Ein aufquellender Salzstock hat dort Buntsandstein förmlich herausgehoben durch die eiszeitlichen Sandschichten, die sonst das Bild des Nordens bestimmen. In Frühzeiten vor mehr als 6000 Jahren war der markante Block noch Teil des Festlandes, ein mystisches, "heiliges Land", aus dem sich der Name Helgoland entwickelte, wie Historiker vermuten.

Nachdem der Katamaran im Südhafen festgemacht hat, eilt die Karawane der Besucher Richtung Ortschaft. Vorbei an den ersten Schnapsläden, die einst den Ruf vom Fuselfelsen brachten. Doch die Zeit des schnellen, zollfreien Einkaufs als Hauptgrund für die Anreise ist lange vorüber: Nicht mehr 800 000 Tagesgäste pro Jahr wie in den 1970er-Jahren zählt die Gemeindeverwaltung, sondern knapp 300 000. Dafür steigt aber die Zahl derjenigen enorm an, die mehr als nur die drei Stunden bleiben, die eine Hin- und Rückfahrt am Tag erlaubt.

Sichtbar ist der Wandel vom Fuselfelsen zum Urlaubsort mit Robinson-Charme schon an den Hummerbuden, jenen bunten, skandinavisch anmutenden Spitzdachhäuschen, wo früher die Fischer ihre Ausrüstung unterstellten. Heute gibt es hier Seafood-Restaurants, Galerien, ein Museum. Aber auch noch Fischer, die den Helgoländer Hummer fangen - Knieper, wie es auf der Insel heißt. Sie gedeihen nur hier in dem klaren Wasser auf dem Felsenuntergrund vor Helgoland. Klaus Köhn ist einerder letzten dieser Fischer. In seiner Hummerbude steht Angelgerät neben Schraubenziehern, Zangen, Ölzeug, Netzen und einem großen Kochtopf. Köhn verkauft in seiner Bude die Spezialität direkt an die Gäste. Heute ist die Kieler Familie Mannigel da: Mutter,Vater, die beiden Kinder, 8 und 10. Hell sommerlich gekleidet, Sonnenbrillen, leichte Sommerbräune. Eine Familie, die man nach Sylt verorten würde. "Wir kommen schon seit Jahren hierher", sagt Birte Mannigel. Man könne auf der Insel die Kinder einfach laufen lassen. Und, na ja, eben dieses Inselfeeling, sagt sie. Das sei schon etwas Besonderes.

Direkt im Anschluss an die bunten Buden erstreckt sich die Gebäudezeile mit den Hotels und dahinter dann die eigentliche Ortschaft im Unterland. Nach der Zerstörung Ende des Krieges wurden die Häuser ab 1952 wiederaufgebaut - aber ganz anders als dieursprüngliche Bebauung, die auf der lange Zeit britischen Insel viktorianisch-britisch geprägt war.

Die neue Nachkriegsarchitektur fand man in den vergangenen Jahren gelegentlich spießig. So wie den typischen Fuselfelsen-Besucher eben auch. Doch mit dem Imagewandel hin zum Hochsee-Erlebnis erscheint auch die Architektur in einem anderen Licht. Mittlerweile werden sogar Führungen angeboten. Und das mit gutem Grund: Der Architekt Otto Bartning, einer der Gründer der Bauhaus-Bewegung, plante sie. Ein Künstler entwickelte eigens das Farbsystem der Fassaden aus Vorbildern in der nahen Natur. Die Dachneigungen sind extra so gehalten, dass jeder Vorgarten dahinter noch Sonne bekommt. Und immer wieder gibt die Bebauung den Blick frei auf das endlose blaue Meer, das die Insel umgibt.

Vom Unterland gelangt man dann per Fahrstuhl oder auch auf einer langen Treppe hoch ins Oberland. Dort sitzt gelegentlich Wilfried Schmidt mit seinen Helgoland-Fotobänden. Wer wissen will, was diesen Felsen so einzigartig macht, sollte darin blättern und sie kaufen. Für den 75-Jährigen selbst ist die Insel ein Fluchtpunkt zu innerer Einkehr, wie er sagt. Schmidt war erfolgreicher Werbetexter in Düsseldorf, titelte Slogans wie "Dem Leben dieHärte nehmen" für ein neues Toilettenpapier. Dann, nach einem Besuch auf Helgoland, verkaufte er Ende der 1980er-Jahre seine Düsseldorfer Eigentumswohnung, kaufte sich ein kleines Apartment auf der Insel und lebt seither vom Buchverkauf. Ruhe, Wind, Meer - das reicht ihm. "Und wenn man hier mit jemandem reden will, dann wartet man, bis er vorbeikommt."

Von den Häusern im Oberland führt der Weg weiter zu den Klippen. Ganz oben, auf dem höchsten Punkt, sollte jeder Besucher sich einmal drehen, ringsherum: grüne Hügel, roter Felsen. Der Blick fällt auf die vorgelagerte Badedüne. Und überall wieder dieses Blau. Vom Meer, vom Himmel. Bis zum Ende, rundherum. Kein anderes Land in Sicht, keine Verbindung, kein Netz zum Alltag. Helgoland istinseliger. Ja, es stimmt.