Die Geschichte, wie Dietrich Gerloff aus Pinneberg vor 50 Jahren durch einen Spaß auf der “Seebad Binz“ in die Fänge des DDR-Regimes geriet.

Pinneberg. Vor einigen Tagen sah Dietrich Gerloff das Schiff wieder, an einer Werft-Pier am Wilhelmsburger Reiherstieg, wo es immer noch festgemacht ist. Rostfahnen hängen unter den Fenstern, die einst weiße Farbe ist an vielen Stellen schmutziggrau verwittert. Lange geisterte die 1957 gebaute "Cori" durch die verlorenen Ecken des Hafens, kam seit ihrem Verkauf nach Hamburg aber nie recht in Fahrt.

Jetzt soll das frühere DDR-Seebäderschiff wieder flottgemacht werden, ein neuer türkischer Eigner wolle sie in Belgien einsetzen, heißt es bei der Werft. Am Heck trägt die "Cori" bereits wieder ihren alten Taufnamen: "Seebad Binz". Gerloff schauderte, als er an dem abgelegenen Elbarm im Hamburger Freihafen den Namen las. Vor 50 Jahren war der pensionierte Studiendirektor aus Pinneberg auf diesem Schiff in den Strudel der DDR-Machtpolitik geraten.

Als 25-jähriger Student leitete er eine kirchliche Jugendgruppe aus Ostberlin, die wenige Tage nach dem Mauerbau eine fröhliche Ausflugsfahrt rund um Rügen unternahm. Es sollte Höhepunkt und Abschluss einer Zelt-Freizeit sein - und endete für Gerloff und viele seiner Freunde vor einem DDR-Gericht. Weil die jungen Leute aus Spaß dem Kapitän einen Zettel geschrieben und um Weiterfahrt in Richtung der dänischen Insel Bornholm gebeten hatten, wurden sie festgenommen, abgeführt, verhört, in Einzelhaft gesteckt.

Der DDR-Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht selbst bezeichnete sie als Banditen und Entführer. Das Ministerium für Staatssicherheit gab die Begründung vor, die Gerloff später wortgleich im Urteil fand. Nur wenige Tage nach der Ostsee-Tour wurde den jungen Leuten der Schauprozess gemacht. Heute vor 50 Jahren, am 26. August 1961, hörte Gerloff den Urteilsspruch: acht Jahre Zuchthaus. "Absurd, völlig absurd - wir hatten doch nur einen Spaß gemacht", sagt er.

Gerloff, inzwischen 75 Jahre alt, hat auf dem Wohnzimmertisch in seinem Pinneberger Reihenhaus Kopien der alten Protokolle und angeblichen Beweis-Schriftstücke ausgebreitet. Der frühere Lehrer für Geschichte, Geografie und Sozialkunde hat noch immer die buschigen Augenbrauen, wie auf dem Foto, das ihn im Prozess zeigt. Verschüchtert steht der Angeklagte dort, ein junger Mann mit freundlichen Gesichtszügen. Verwirrt, weil er das alles noch nicht begreifen kann.

Warum man ihn beschimpft und verurteilt, Tatsachen verdreht und letztlich benutzt hat, erfuhr er erst viel später. "Hier, da ist der Fall genau aufgerollt", sagt Gerloff und holt ein Buch hervor. "Meuterei vor Rügen - was geschah auf der Seebad Binz?", steht auf dem Titel. Lange hat der Autor Helmuth Henneberg die Hintergründe des Falls recherchiert, Zeitzeugen per Zeitungsanzeigen gesucht. Auch Gerloff hat sich später hineingegraben in den eigenen Fall, bei den Behörden seine Stasi-Akten durchforstet.

Nach seiner Festnahme dachte er lange noch, alles würde sich bald als gewaltiges Missverständnis klären. Selbst als Richter und Staatsanwalt die Jugendlichen immer wieder anschrien, glaubt er noch dran. "Hoffnung hat man immer", sagt er. Doch inzwischen weiß Gerloff, dass sein Fall den DDR-Machthabern gerade recht kam, um Kritiker wie in der christlichen Jungen Gemeinde in dieser heiklen ersten Phase des Mauerbaus schnell auszuschalten - und vielleicht andere einzuschüchtern.

Ganz genau hat Gerloff später aus Protokollen und dem Gedächtnis aufgezeichnet, was damals geschehen ist: Die zehn Mitglieder der Jungen Gemeinde aus Berlin-Schmöckwitz, zwischen 16 und 25 Jahre alt, waren während ihrer Zelt-Ferien auf der Insel Usedom vom Mauerbau überrascht worden. "Auf dem Campingplatz herrschte eine nervöse Atmosphäre", erinnert sich Gerloff. Viele Urlauber brachen ihre Zelte ab. Auch Gerloff überlegte kurz einen solchen Gedanken. Er studierte in Westberlin, wohnte aber im Osten. Doch er wollte die Zelte der Gemeinde ordnungsgemäß zurückbringen. "Noch wusste man ja auch nicht, dass die Mauer so lange stehen würde."

Und dann war da noch die geplante Ausflugsfahrt mit dem Seebäderschiff, der Höhepunkt und Abschluss der Reise. Mit seinem Freund Jürgen Wiechert, Sohn des Pastors und ebenfalls Gruppenleiter, beriet er sich. Beide beschlossen, die Zeit wie geplant weiter zu verbringen. Frühmorgens am 18. August brach die Gruppe auf und nahm den Zug nach Wolgast. Gebucht war auf dem schnieken weißen MS "Seebad Binz" die Tour "Küste Bornholm", die eigentlich bis in Sichtweite der Insel führt. Doch eineinhalb Stunden nach Ablegen kam über den Bordlautsprecher die Durchsage, dass zu viel Wind auf der Ostsee zu einer Kursänderung zwinge und man stattdessen in den geschützten Gewässern bleibe. Die jungen Leute mutmaßten gleich, dass der Kapitän wohl Anweisung hatte, nicht zu dicht an Dänemark heranzufahren.

Auf dem Oberdeck sangen sie gemeinsam mit einer ebenfalls evangelischen Jugendgruppe aus Brandenburg Wanderlieder, die Stimmung war eigentlich gut, man machte Späße. Und irgendjemand kam schließlich auf die Idee, dem Kapitän einen Zettel zu schreiben. "Seiner Majestät, dem Herrn Admiral auf SMS ,Seebad Binz' übermittelt", stand darauf. "In Anbetracht der guten Stimmung auf dem Oberdeck bitten zehn Berliner stellvertretend für die meisten Passagiere um Fortsetzung der Fahrt in Richtung Bornholm." Einige unterschrieben mit ihrem Namen, einer nur mit "Neptun". "Ein Spaß, nichts als Spaß war das - wir hatten daher eigentlich auch eine spaßige Erwiderung erwartet", sagt Gerloff.

Doch der Kapitän war offensichtlich verunsichert, wollte sich absichern. Wer weiß, wie die Sache von höheren Stellen beurteilt würde, wenn er darüber hinwegsähe, mag er gedacht haben. Humor und Spaß - nein, das passte nicht in die aufgeheizte Atmosphäre jener Zeit, in der sich SED-Obere in der "Ostzone" und Politiker im "Nato-Westen" argwöhnisch belauerten. Frontstadt wurde Westberlin seinerzeit genannt. Was den Kapitän bewogen hat, schließlich die Grenzpolizei per Funk anzurufen, hat Gerloff nie erfahren.

Bereits gegen 11.25 Uhr, so steht es in seinem Protokoll, geht ein DDR-Marineschiff längsseits. "Noch haben wir nicht geahnt, dass das uns gelten könnte", erzählt Gerloff. Auch als die "Seebad Binz" angeblich wegen eines Schadens in Sassnitz auf Rügen anlegt, sind die jungen Berliner ahnungslos. Soldaten mit Maschinengewehren marschieren auf - auch das muss anderen Dingen gelten, glauben sie. Und dann fällt der gesamte Apparat über sie her.

Man führt sie mit erhobenen Händen ab. Sie werden auf einen Lkw gedrängt, in Handschellen. Angebrüllt, geschubst. Nach Rostock ins Gefängnis transportiert. Sie müssen sich ausziehen, die Schuhe werden ihnen genommen. "Noch immer dachte ich an ein völliges Missverständnis", sagt Gerloff.

Was er damals nicht wusste: Der Vorfall war längst dem Ministerium für Staatssicherheit gemeldet worden. Bei einer Lagebesprechung der Zentralen Einsatzleitung werden die jungen Christen bereits als Banditen bezeichnet. Noch am selben Tag, am 18. August, lautete die völlig umgedrehte offizielle Beschreibung so: Das Seefahrgastschiff sei von "einer Bande von 20 bis 25 Mann gegnerische Elemente, die die Mannschaft überwältigten, zum Kurs auf den Nato-Hafen Bornholm" gezwungen worden. Nur der Geistesgegenwart des Kapitäns sei es zu verdanken, dass ein Notruf abgesetzt werden und Schnellboote das Schiff stellen konnten.

Selbst der DDR-Staatsratsvorsitzende Ulbricht erwähnt die angeblichen Banditen in einer Rede. Die Junge Gemeinde sei schlimmer als die jungen Sozialdemokraten, hetzt er. "Sie sind Anhänger der Nato und des Klerikalismus. Sie sterben für Gott und Adenauer und sind bereit, Verbrechen zu begehen."

Ein Tonfall, der wohl niemals einen rechtsstaatlichen Prozess ermöglicht hätte. Und tatsächlich gibt es Hinweise in den Akten der Bundesbehörde für Stasi-Unterlagen, dass die Richter ihre Urteilsbegründung von der Staatssicherheit diktiert bekamen.

Gerloff und Wiechert wurden zu je acht Jahren Zuchthaus verurteilt, die anderen bekamen Gefängnisstrafen. Doch das Urteil gründete nicht mehr allein auf den Vorfall auf der "Seebad Binz". Die Stasi-Ermittler hatten auch andere "Beweise" zusammengetragen. So etwa Spottverse über Ulbricht. "Er trägt einen Bart unterm Mund, sieht aus wie ein Hund." Verurteilt wurden Gerloff und Wiechert schließlich wegen "staatsgefährdender Propaganda und Hetze sowie Nötigung".

Gerloff kam zunächst lange in Einzelhaft, später verlegte man ihn ins Zuchthaus nach Torgau, in überfüllte Zellen mit gewöhnlichen Kriminellen. 1963 wurden er und sein Freund Wiechert plötzlich entlassen. Was er erst viel später erfahren hat: Die beiden gehörten zu den ersten acht DDR-Häftlingen, die vom Westen für je etwa 40 000 D-Mark freigekauft wurden, aber zunächst nur in den Osten entlassen wurden. Erst 1966 konnte Gerloff ausreisen und sein Studium beenden. Er wurde schließlich Gymnasiallehrer, arbeitete lange in Hamburg und dann in Pinneberg, wo auch seine Frau, eine Ärztin, ihren Arbeitsplatz hatte.

Mit Wiechert und den anderen aus der Gruppe ist das Ehepaar noch immer befreundet. Man trifft sich schon lange und unternimmt gemeinsame Ausflüge. Genau 40 Jahre nach ihrer Verhaftung machte sich die Gruppe zu einem besonderen Ziel auf. Nach Bornholm. (abendblatt.de)