Wo ist der Wald vor lauter Bäume? Beim Zählen des Baumbestandes in Schleswig-Holstein fehlt plötzlich eine Fläche, die dreimal so groß ist wie Sylt.

Kiel. Mit einer baumstarken Meldung hat das Statistikamt Nord des Waldes Ruh nachhaltig gestört. Laut der "Landwirtschaftszählung 2010" gibt es in Schleswig-Holstein nur noch 135 503 Hektar Wald, zwei Prozent weniger als vor zehn Jahren. Die Kieler Regierung, die seit Jahren Aufforstungserfolge verkündet, ist empört und wirft den Statistikern vor, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen. Laut regierungsamtlicher "Waldinventur" gibt es im Norden 163 840 Hektar Wald, gut ein Prozent mehr als vor zehn Jahren.

"Unsere Zahlen stimmen", versichert das Statistikamt. "Die Zahlen sind schlichtweg falsch", widerspricht der Leiter der obersten Forstbehörde im Kieler Landwirtschaftsministerium, Johann Böhling. Einig sind beide Landesbehörden darin, dass eine dritte Statistik über den Wald in Schleswig-Holstein auf den Holzweg führt. Die jährliche "Flächenerhebung nach Art der tatsächlichen Nutzung", die auf Daten der Katasterämter beruht, kommt auf fast 170 000 Hektar Wald.

Klar ist, dass die drei amtlichen Statistiken um mehr als 30 000 Hektar - das sind 300 Millionen Quadratmeter - Wald auseinanderliegen. Das ist eine Menge Holz, wie ein Vergleich zeigt: Der strittige Waldbestand ist dreimal so groß wie die Insel Sylt oder misst etwa 4000 Fußballplätze. Gleichwohl ist keine der Statistiken falsch, nur der Blick auf den Wald ist unterschiedlich. So wie ein Statistiker in den Wald hineinruft, so schallt es eben heraus.

Bestes Beispiel ist die umstrittene Landwirtschaftszählung. Sie erfasst nur Forstbetriebe mit mehr als zehn Hektar und Bauern mit mehr als fünf Hektar Wald. Mehrere Hundert Mini-Wälder fallen so unter den Tisch. "Kleinvieh macht auch Mist", bilanziert Böhling. Das Statistikamt bestätigt einen weiteren Haken. Entscheidend für die Zählung ist der Betriebssitz des Waldbesitzers. So wird etwa schleswig-holsteinischer Wald, der einem Bauern aus dem Landkreis Lüneburg gehört, den Waldflächen in Niedersachsen zugeschlagen. Hamburg wäre nach diesem Prinzip statistisch gesehen zu einem Großteil bewaldet, weil Gesellschaften aus der Hansestadt Wälder in Mecklenburg-Vorpommern managen. Das Statistikamt hat den Systemfehler bemerkt und aus der Bilanz geholzt.

Umso klarer sind bei der Zählung die Details geregelt. Zur Waldfläche gehören demnach auch "Wege unter fünf Meter Breite", bestimmte Kahlflächen und Holzlagerplätze, aber keine "Walnuss- und Kastanienbäume, die überwiegend für die Fruchterzeugung bestimmt sind". Außen vor bleiben auch Baumschulen und solche Tannen, die auf Plantagen fürs Weihnachtsfest wachsen.

"Diese Statistik verlässt sich darauf, dass die Betriebe ihre Flächen selbst einschätzen", klagt Böhling. Das könnten aber nur Experten. Er schwört deshalb auf die "Bundeswaldinventur", bei der eigens geschulte Forstfachleute durch die Landschaft streifen und nach strengen gesetzlichen Vorgaben in ausgewählten Proberegionen ermitteln, was noch eine Baumgruppe mit Buschwerk und was schon ein Wäldchen ist.

Dieser Aufwand wird bundesweit allerdings nur alle zehn Jahre betrieben, zuletzt bei der "Zweiten Bundeswaldinventur" 2004. Damals wurden in Schleswig-Holstein 162 466 Hektar Wald ermittelt. Böhling schreibt seitdem auf, wie viel Wald abgeholzt und neu angepflanzt wird. Sein Ergebnis: In Schleswig-Holstein kamen bis Ende vergangenen Jahres 1374 Hektar hinzu.

Kaum belastbar ist nach Einschätzung sowohl des Statistikamtes als auch der Regierung die Waldbilanz aus dem Liegenschaftskataster. Denn in den Grundbüchern sind manchmal noch Wälder vermerkt, die längst Neubaugebieten oder Straßen weichen mussten. Korrigiert werden die Katasterakten erst nach einer amtlichen Neuvermessung. Sie kann dauern.

Böhling würde gern mit der Axt durch den Statistikdschungel gehen, seine Waldinventur allerdings nicht missen. Sie sei gesetzlich vorgeschrieben. Das Statistikamt argumentiert ähnlich. Die Landwirtschaftszählung sei nicht verzichtbar, zudem eine Vorgabe der EU. Für den angeblichen Waldschwund in Schleswig-Holstein, den das Statistikamt feststellte, gibt es derweil eine erste banale Erklärung. Die neue Landesforstanstalt hat die Fläche der Landeswälder 2010 nach unten korrigiert, weil die früheren Forstämter vor zehn Jahren offenbar zu viele Bäume gemeldet hatten. "Einen Rückgang gab es nur auf dem Papier", bilanziert Johann Böhling.

Fakt bleibt, dass Schleswig-Holstein mit einem Waldanteil zwischen 8,6 Prozent der Landesfläche (Statistikamt Nord) und 10,4 Prozent (Regierung) so oder so das waldärmste Flächenland in Deutschland ist.

Neue Wege im Wald gehen derweil die Brandenburger. Das Landeskompetenzzentrum Forst Eberswalde (LFE) erprobt ein Fernerkundungssystem, das Wälder per Laser vermisst und so Prognosen zur Entwicklung der Baumbestände ermöglichen soll. Die EU fördert das Projekt mit 2,6 Millionen Euro.