Nach genau 600 Jahren kommt es in der alten Salzstadt zum Fest der Verbündeten von früher. 200 000 Gäste werden erwartet

Lüneburg. Wenn Marion Semrau ihr weinrotes Kleid überstreift und ihre Samtmütze aufsetzt, wird sie zur Sülfmeisterin für ein, zwei Stunden. Dann erklärt die Lüneburgerin den Besuchern ihrer Heimatstadt, was anders war vor vielen 100 Jahren in der Stadt, die mit dem Salzhandel reich geworden ist - dank dem Städtebund der Hanse. Von heute bis Sonntag treffen sich in Lüneburg Geschichte und Gegenwart beim 32. internationalen Hansetag der Neuzeit.

Es ist fast 1000 Jahre her, da taten sich die ersten deutschen Kaufleute zusammen, um ihren Handel im Ausland abzusichern. Nicht viel später waren es ganze Städte, und Landesgrenzen zählten nicht mehr. 1356 trafen sich deren Vertreter zu ihrer allerersten Tagung - in Lübeck, dem Haupt der Hanse. Und vor genau 600 Jahren, 1412, taten sie das in Lüneburg. Tagfahrt hieß das Zusammentreffen damals, es ging um Transportwege, Waren, Provisionen und Privilegien.

Denn Privilegien waren das entscheidende Konstrukt des Mittelalters. "Ohne Privilegien ist die Hanse nicht vorstellbar", sagt Jürgen Landmann, Kulturreferent und Mitorganisator des modernen Hansetags bei der Stadt Lüneburg, die sich seit 2007 offiziell Hansestadt nennen darf. Privilegien bestimmten darüber, wer welche Straße nutzen, wer Münzen prägen, Mühlen betreiben und Bier brauen durfte.

Und Salz sieden. In Lüneburg durften das nur die Sülfmeister: Familien, die mindestens vier Siedepfannen gepachtet hatten. Bis zu 250 Kubikmeter Sole förderten die Lüneburger einst täglich, verkochten sie und ernteten daraus das weiße Gold der Hansezeit. Salz war Geld.

Vom einstigen Wirtschaftszentrum der Stadt, dem alten Hafen, ging das so seltene wie wichtige Gut in den gesamten Ostseeraum. "Der Weg nach Lübeck dauerte drei bis vier Wochen", erzählt Marion Semrau alias Frau Sülfmeisterin ihren Besuchergruppen. "Ob mit der Kutsche oder später per Schiff über die Ilmenau, Elbe und den Elbe-Lübeck-Kanal." Ewer und Prahme waren die damaligen Transportmittel, zwei Modelle liegen heute originalgetreu nachgebaut im alten Hafen am Stintmarkt.

Doch die Schiffe mussten auf der Ilmenau von Männern am Ufer per Seil gezogen werden, beladen mit bis zu 20 Tonnen Salz - treideln heißt das, daher die Bezeichnung Treidelweg entlang kleiner Flüsse. Und das ging auch nicht viel schneller als die Reise per Pferd. Heute dauert die Fahrt anderthalb Stunden mit dem Auto und etwas weniger mit dem Zug.

Was heute noch übrig ist aus der Hanse-Zeit, ist nur an wenigen Orten so augenfällig wie in Lüneburg. Nicht nur 1300 Baudenkmäler zeugen von Lüneburgs reichen Jahrhunderten, Hunderte der typisch hansestädtischen Treppen- und Schneckengiebel, sondern auch der Alte Kran steht noch, der die Waren von Wasser an Land und umgekehrt gehievt hat, und nebenan leuchtet die Fassade des Alten Kaufhauses mit dem glänzenden Schiff auf der mattgrünen Zwiebelhaube.

Das Ole Heringshus, 1302 zum ersten Mal erwähnt, ist hinter der alten Fassade mittlerweile ein neues Hotel, früher aber mussten Händler, die durch Lüneburg reisten, ihre Waren dort drei Tage lang zum Verkauf anbieten. Für alles, ob Kran oder Kaufhaus, kassierte die Stadt eine Gebühr. Von den Einnahmen finanzierte sie im 17. Jahrhundert knapp ein Viertel ihres Gesamtetats. 1970 gab der letzte Fischverkäufer am Stintmarkt auf, da hatte der Kran schon mehr als 100 Jahre keine Waren mehr befördert, die Eisenbahn hatte ihn abgelöst.

Die Hanse machte ihre Mitglieder also reich - und gleichzeitig auch frei. Denn eine Stadt, die mit Handel viel Geld verdiente, konnte sich von der Vorherrschaft der Fürsten, Könige und Kaiser freimachen. Indem sie sich Rechte kaufte: Privilegien.

Noch heute ist die Hanse daher fast ausschließlich mit positiven Assoziationen besetzt, mitunter sogar mit den guten Eigenschaften von Hanseaten. Doch beides stimmt so nicht. Erstens ist das, was heute als hanseatisch gilt, erst nach der Zeit der Hanse - sie ging im 17. Jahrhundert zugrunde - entstanden. Und zweitens war die Hanse auch ein "knallhartes Interessengeschäft", sagt Lüneburgs Kulturreferent.

Wer Demokrat sei, dürfe spitz gesagt mit der Hanse eigentlich nichts mehr zu tun haben wollen, denn sie baute auf einem Konglomerat aus Absprachen, Korruption und jenen erkauften Privilegien auf. Sie war kein Verbund, kein Verein, keine Institution. Sondern eine Verabredung.

Und in gewisser, positiv besetzter Weise ein Vorgeschmack auf das moderne Europa mit seiner gemeinsamen Währung, seinem Fiskalpakt und seinem Bologna-Prozess. Die Hanse war auch ein Mittel zum Zweck: den Reichtum der Mitglieder zu stabilisieren und zu vergrößern. Denn wer reich war, war selbstständig - und das war keinesfalls selbstverständlich.

Heute ist die Freiheit fast selbstverständlicher als der Reichtum. Als Wirtschaftsgipfel dienen die Hansetage der Neuzeit trotz der damit verbundenen Treffen von Städtevertretern kaum mehr. Wohl aber als Kulturfest. 1980 taten sich einige der alten Hansestädte zur Hanse der Neuzeit zusammen, und seither lädt jedes Jahr eine andere Hansestadt ihre alten Verbündeten ein. In diesem Jahr - 600 Jahre nach der echten Tagfahrt - ist Lüneburg an der Reihe. 1988 hatte die Stadt den entsprechenden Antrag gestellt.

200 000 Besucher werden erwartet, wenn sich mehr als 100 Hansestädte aus 14 Ländern sich bis Sonntag präsentieren. Die Städte bringen Tanz- und Kulturgruppen mit, es gibt 440 Stunden Programm auf acht Bühnen, Kunst- und natürlich historische Hanse-Ausstellungen, einen mittelalterlichen Handwerkermarkt in der Altstadt - und die Kirche St. Johannis zeigt sich wie zur Hanse-Zeit: ohne Bestuhlung. Auch dort trifft ab heute also die Gegenwart auf ihre Geschichte.

www.hansetag2012.de