Uni Hamburg: Ein deutschlandweit einzigartiges Projekt. Hochbegabte im Umgang mit Zahlen - wie erkennen Experten sie schon im Grundschulalter? Das “PriMa“-Projekt der Uni Hamburg entdeckt und fördert diese Kinder.

Nein, dies hier ist nichts für Zahlenmuffel - denn hier schwirren die Zahlen nur so durch den Raum. "Ich bin für zwei", ruft Jon. "Nein, vier", ruft Kim. Jacob diskutiert mit dem Tutor gerade die Primzahlen. Und einen Raum weiter geht es in der Mädchengruppe ebenfalls lebhaft zu. Hannah, Pia und Mira haben die Lösung in der Dreiergruppe gefunden und rangeln aufgeregt auf ihren Stühlen. Janika und Klara Marie sind auch schon sehr weit, Leonie dagegen kaut hochkonzentriert auf ihrem Bleistift.

Ortstermin nachmittags in der Uni Hamburg, Von-Melle-Park 8. Alle zwei Wochen treffen sich hier, in den Räumen des Fachbereichs Erziehungswissenschaft, 50 hochbegabte Mathematikschüler im Alter zwischen acht und zehn Jahren. "Kinder der Primarstufe auf verschiedenen Wegen zur Mathematik" lautet der etwas umständliche Name dieses in dieser Art deutschlandweit einzigartigen Projekts, mit dem Universität und Behörde sowohl Breitenförderung als auch die Förderung besonderer Begabungen verfolgen.

"Erfinder" des Forschungs- und Förderprojekts und des Auswahlverfahrens sind zwei Hamburger Wissenschaftlerinnen. Professorin Marianne Nolte lehrt seit 1993 an der Uni Mathematikdidaktik für Grundschullehrer. Die 52 Jahre alte Mathematikdidaktikerin hat zwei erwachsene Kinder. Früher war sie selbst Lehrerin. Ihre Kollegin ist Kirsten Pamperien (42), Studienrätin für Volks- und Realschule und heute von der Behörde für Bildung und Sport für das "PriMa"-Projekt abgeordnet. Auch sie hat zwei Kinder, noch im Grundschulalter.

Worum geht es? Mathematische Hochbegabungen bei Kindern zu erkennen ist für Laien nicht einfach. Sicherlich, berichtet Marianne Nolte, stehe am Anfang die Faszination von Zahlen. Ein dreijähriges Kind, das bereits Zahlen bis 100 erkennt, ein Fünfjähriger, der vor dem Einschlafen nicht nur die Schafe zählt, sondern ausrechnet, wie viele Stunden es noch bis zu seinem Geburtstag sind - das sind Geschichten, die vielleicht viele von ihren Kindern kennen. Doch das ist nur der Anfang. Hochbegabung reicht weiter, über die Zahlen hinaus.

"Was wir hier fordern", erzählt Kirsten Pamperien, "ist mathematisches Denken. Wir wollen, daß sich die Kinder wie kleine mathematische Forscher verhalten." Und was heißt das? "Es geht um die Entdeckung von Mustern, von Problemfeldern, von weiterführenden Aufgaben." Zum Beispiel: Das Kind bekommt eine Aufgabe wie diese: "Heute ist Freitag, der 25. November. Was für ein Datum haben wir in 24 Wochen?" In einer Schule würde man den Kindern nun einen Kalender an die Hand geben, zum Auszählen. "PriMa"-Kinder leisten mehr. Sie erkennen Muster und Anschlußprobleme.

Wohin wandert der Freitag, wenn der Monat 30 oder 31 Tage hat? Was passiert mit den Sekunden, die es an Silvester mehr gibt? Und so weiter . . .

Hamburg ist in Deutschland einer der Vorreiter auf dem Gebiet der Begabtenforschung und -förderung in der Mathematik. Schon seit den 80er Jahren betreut die hier ansässige gemeinnützige William-Stern-Gesellschaft hochbegabte Hamburger Kinder von der Mittelstufe bis zum Abitur, also ab Klasse 7.

Das "PriMa"-Projekt setzt bei jüngeren Kindern an, ebenfalls unterstützt durch die William-Stern-Gesellschaft und finanziell gefördert durch die Bildungsbehörde und die Beratungsstelle besondere Begabungen. Von hier aus kommen auch die nötigen Gelder für die vielen Tutoren und Protokollanten, die die Kinder bei ihren Aufgaben ständig beobachten und begleiten. "Das Tolle ist", berichtet Marianne Nolte, "daß wir einen Kreis schaffen. Früh geförderte Kinder kehren später wieder als Tutoren zu uns zurück und helfen den Jüngeren."

Wie eine Evaluation der William-Stern-Gesellschaft ergab, hat fast die Hälfte der einst geförderten Jugendlichen später promoviert, die meisten in einem naturwissenschaftlichen Fach.

Wissenschaft für die Praxis, so könnte man das Projekt auch beschreiben. Immer wieder sind Marianne Nolte und Kirsten Pamperien in den Schulen, testen ihre eigens entwickelten Aufgaben. Das Ziel: Auch im ganz normalen Matheunterricht können Kinder zu kleinen Forschern werden.

In jedem Jahr gibt es zudem einen speziellen Forschungsschwerpunkt. So wurden in diesem Jahr die "PriMa"-Kinder nach Jungen und Mädchen getrennt. "Wir wollen herausfinden, ob es wirklich einen Unterschied im Arbeitsverhalten gibt. Das geht nur in der Praxis." Ergebnisse gibt es darüber noch nicht. Marianne Nolte wird dazu erst etwas sagen, wenn sie tatsächlich Fakten vorzuweisen hat.

Der Arbeitsaufwand der beiden Wissenschaftlerinnen ist enorm. Mit 200 Kindern fing es 1999 an, in diesem Jahr haben sich 700 Drittkläßler für die Talentsuche angemeldet. Vier Wochenenden lang werden Kinder in die Uni eingeladen und auf einen Test vorbereitet. Im Januar wird getestet. 50 Kinder können an der Uni gefördert werden. Alle anderen finden einen Platz in einem der mittlerweile über 54 Mathezirkel an Hamburger Grundschulen. Viele Lehrer haben sich dafür extra fortbilden lassen.

Zurück zu den Kindern in der Universität. "Warum, Pia, bist du jetzt hier, statt mit deinen Freundinnen zu spielen?" "Weil es Spaß macht. Endlich mal schwerere Aufgaben", antwortet sie. Und Hannah wirft ein: "In der Schule ist es oft so langweilig, hier nicht."

Hannahs Mutter, Sabine Hausschild, unterstützt ihre hochbegabte Tochter, wo sie kann. "Es ist großartig, wie die Kinder hier im Team arbeiten. Es gibt kein Gegen-, sondern nur ein Miteinander." Und woher hat der neunjährige Jon sein Faible fürs Rechnen? "Bei uns liegt das in der Familie", berichtet seine Mutter, Maria Scharrmann-Wullenweber. Schon der Großvater war ein Rechengenie. Aber es ist nicht die Rechenlust allein. "Das wichtigste ist der Spaß, den Jon daran hat. Immerhin ist es sein Freitag, an dem er nicht zum Spielen kann, sondern in die Uni kommt."

Genau das ist der entscheidende Punkt für Marianne Nolte: "Kinder, die so begabt sind, haben Lust, lange an schweren Aufgaben zu arbeiten. Ganz anders ist das bei Kindern, die zu einer Hochleistung trainiert werden. Sie verlieren bei anspruchsvollen Aufgaben den Spaß."