“Der Zwang, ewig siegen zu müssen, ist die Krankheit der Moderne“, sagt Richter - und beklagt, dass das Mitfühlen, Behüten, Helfen immer weniger zur Geltung kommt.

Gießen. ABENDBLATT: Herr Richter, Sie haben einmal gesagt, Ihre Mutter wollte aus Ihnen einen starken Jungen machen, also kein Weichei. Ist ihr das gelungen?

HORST-EBERHARD RICHTER: Vielleicht in einer Hinsicht - wenn es darum geht, an meiner Überzeugung trotz Kränkungen und Benachteiligungen festzuhalten. Zu diesem Thema habe ich das Buch "Flüchten oder Standhalten" geschrieben.

ABENDBLATT: Gleichwohl schreiben Sie in ihrem neuen Buch über die "Krise der Männlichkeit". Was heißt das?

RICHTER: Eigentlich beschreibe ich die Krise einer unerwachsenen Männlichkeit. Damit meine ich beispielsweise einen Wesenszug unserer Kultur, im Technischen und Militärischen abenteuerliche Risiken einzugehen und in eine gefährliche Maßlosigkeit hineinzugeraten. Da fehlt es mitunter an Vorsicht und Sensibilität.

ABENDBLATT: Sind Frauen denn im Gegensatz zu Männern erwachsener geworden?

RICHTER: Frauen sind in den vergangenen 100 Jahren einseitig stärker geworden, indem sie in zahlreichen Männerberufen erfolgreich Karriere machen. Dabei ist, psychologisch gesehen, eine gewisse Entweiblichung der Gesellschaft eingetreten. Mitfühlen, Behüten, Sorgen, Rücksichtnahme, Helfen - die man vorwiegend an der Weiblichkeit verortet -, kommen weniger zur Geltung. Damit vermindert sich der Einfluss der spezifisch weiblichen Bindungskräfte und ihr humanisierender Einfluss auf die Zivilisation.

ABENDBLATT: Heißt das, Frauen zurück an den Herd, in die Familie?

RICHTER: Sie betrachten Weiblichkeit als eine Sache der Frauen und Männlichkeit als eine Sache der Männer. Darum geht es nicht. Die Frauen haben ihre soziale Einengung, lange Zeit begründet mit vermeintlichen Defiziten im Intellekt und in der geistigen Reife, endgültig durchbrochen. Da gibt es kein Zurück. Aber wichtig ist, dass Frauen ihre speziellen weiblichen Werte überallhin mitnehmen, wo sie ebenbürtig mit den Männern aufsteigen. Und genau so wichtig ist es, dass die Männer sich ihrerseits vervollständigen, also ihre psychologisch weibliche Seite entwickeln. Das mahnt auch der amerikanische Philosoph Richard Rorty mit den Worten an: "Der Fortschritt unserer Gesellschaft hängt nicht vom weiteren Erstarken unseres Intellekts ab, sondern davon, dass sich der Horizont unseres Mitgefühls erweitert." Das kann aber nur geschehen, wenn auch die Männer mehr von ihrer unterdrückten Sensibilität zulassen.

ABENDBLATT: War Ihr Vater Ihnen ein Vorbild in der Entwicklung Ihrer Männlichkeit?

RICHTER: Ich habe ihn bewundert, weil er ein bedeutender Kopf war und eine ganze Reihe von Erfindungen gemacht hat, die uns weitergebracht haben. Ich habe ihn auch bewundert für seine Standfestigkeit, mit der er, der bei Siemens 3000 Leute unter sich hatte, den Eintritt in die NSDAP und eine Teilnahme an Aufmärschen abgelehnt hat, obwohl er immer wieder bedrängt wurde. Allerdings habe ich mich über ihn geärgert, als er mir 1936 die Teilnahme an Tanzveranstaltungen zusammen mit Mädchen untersagte, die im Rahmenprogramm der Olympischen Spiele veranstaltet wurden.

ABENDBLATT: Wie kann unsere Kultur nach Ihrer Meinung mehr erwachsene Männlichkeit entwickeln - oder bleibt das ein Wunschtraum?

RICHTER: In meinem Buch nenne ich einige Pioniere unserer wissenschaftlich-technischen Revolution, in denen sich Empfindsamkeit und Erschrecken über die Unmenschlichkeit eigener wissenschaftlicher Errungenschaften gemeldet hat. Ein Beispiel ist der russische Physiknobelpreisträger Andrej Sacharow, Erfinder der russischen Wasserstoffbombe. In einem kleinen internationalen Kreis, den der ehemalige russische Präsident Michail Gorbatschow betreute, habe ich eine Zeitlang erlebt, wie verzweifelt Sacharow für die Abschaffung der von ihm selbst entwickelten Waffe kämpfte. Auch Joseph Weizenbaum, mit dem ich befreundet bin, ist so ein Beispiel. Als Pionier der Computerwissenschaft warnt er inzwischen überall vor dem Missbrauch der künstlichen Intelligenz für die Entwicklung von Militärtechnologien. Es geht ihm und anderen von mir aufgeführten Forschern um die Rehabilitation der Empfindsamkeit, die vor grausamen Wirkungen wissenschaftlicher Errungenschaften schützen soll. Es ist, wie man sagen könnte, ein Plädoyer für mehr psychologische Weiblichkeit, für erwachsene menschliche Vollständigkeit.

ABENDBLATT: In Ihrem Buch schreiben Sie auch, dass ein Teil der Krise darauf beruhe, dass wir unfähig seien zu leiden. Nun zielen unsere Bemühungen in Medizin und Gesellschaft darauf ab, Leiden zu vermindern. Ist das Unsinn? Braucht der Mensch Leid, um zu wachsen?

RICHTER: Der Mensch braucht es nicht, er hat es. Natürlich sind wir darauf aus, vermeidbares Leiden wo immer möglich zu verhüten. Aber Leiden ist eine Farbe unseres Lebens. Wir sind vom ersten Augenblick an und wir bleiben zerbrechliche, endliche Kreaturen. Aber nach dem Ausbruch aus dem Mittelalter und dem Schwinden der Glaubensgewissheit ist die Vision entstanden, dass der Mensch alle Naturmächte beherrschen könne und keinen Gott mehr bräuchte. Ja, dass er sich nach und nach der göttlichen Allmacht nähern könne, es sogar müsse. Das führt zur Unterdrückung von Ergebenheit, Ehrfurcht und eben von Leiden. Man will, wenn man Gott nicht als Halt und Trost hat, selber Gott sein. Das führt dann eben zu einer pubertären Illusion von erreichbarer Grandiosität und Leidensfreiheit. Wer aber nicht mehr leiden will, muss hassen. Und um sich nicht selbst zu hassen, entsteht der Drang, überall das Böse zu suchen, um es zu besiegen. So kommt es zur Unversöhnlichkeit, zur Friedlosigkeit. Der Zwang, ewig siegen zu müssen, ist die Krankheit der Moderne.

ABENDBLATT: Ist das ein Plädoyer für einen Glauben an Gott?

RICHTER: Psychoanalytiker sind keine Priester. Sie können nur analysieren, dass diese Entwicklung den Menschen offensichtlich nicht bekommt. Sie können nur feststellen, dass angesichts mörderischer Kriege, wachsenden sozialen Elends und forcierter Umweltzerstörung die Bedürfnisse nach Versöhnung mit sich selbst, mit der eigenen Schwäche, mit anderen und der Natur wachsen. Nehmen Sie den US-General Omar Bradley, Chef aller Stabschefs. Er sagte bei seiner Pensionierung: "Wir leben im Zeitalter der nuklearen Riesen und der ethischen Zwerge, im Zeitalter, das Brillanz ohne Weisheit hat und Macht ohne Gewissen. Wir können das Atom jetzt spalten, aber wir haben die Bergpredigt vergessen." Da hat er vielen aus dem Herzen gesprochen.

ABENDBLATT: Glauben Sie, dass eine weiblichere Welt mehr auf Versöhnung bedacht wäre?

RICHTER: Ich wünsche mir, dass Männer wie Frauen aus der Unerwachsenheit heraus gemeinsam vermehrt die Stufe der Elterlichkeit erreichen, das heißt, dass sie ihre individuelle Selbstverwirklichung sozial erweitern, neues und anderes Leben fördern und sich für das Ganze mitverantwortlich fühlen. Das ist leicht zu beschreiben, aber das Erreichen hängt wie bei einer Krankheit von der Krankheitseinsicht und dem Selbstheilungswillen ab.

ABENDBLATT: Wie lautet Ihr Lebensmotto?

RICHTER: Wenn man nicht macht, was man erkannt hat, dann kann man eines Tages auch nicht mehr erkennen, was zu machen ist. Das bedeutet: Es reicht nicht zu analysieren, man muss auch handeln, um analysieren zu können! Wenn man das unterlässt, dann verliert man sich selbst.

  • Horst-Eberhard Richter: "Die Krise der Männlichkeit in der unerwachsenen Gesellschaft" (Psychosozial-Verlag Gießen, 284 Seiten, 19,90 Euro)