Bisher waren die Historiker davon überzeugt, dass nach der verlorenen Varus-Schlacht im Jahre 9 keine Legion mehr nach Norddeutschland vorgedrungen ist. Ein Irrtum. Gestern präsentierten Forscher Beweise aus dem 3. Jahrhundert.

Kalefeld. Das Gemetzel muss grausam gewesen sein. Als die Römer den Hinterhalt erkannten, der sie auf dem Bergkamm erwartete, griffen sie mit allem an, was sie zur Verfügung hatten. Eilig brachten sie große Katapulte in Stellung, kurz darauf durchschlugen mit donnerndem Getöse die ersten Geschosse die Holzschilde der Germanen. Von hinten rückten orientalische Bogenschützen vor, spannten und ließen dreiflügelige Pfeile durch die Luft schwirren. Befehle gellten übers Feld. Schreiend gingen getroffene Kämpfer zu Boden. Der Lärm war ohrenbetäubend.

So etwa muss man sich eine Schlacht vorstellen, die für die Geschichtsschreibung von enormer Bedeutung werden dürfte, von der aber kaum jemand etwas wusste. Bis gestern.

Mit einem Ruck hält der Kleinbus auf dem Waldweg. Er bringt die ersten Besucher hoch zum Harzhorn am westlichen Harzrand. Auf der einen Seite steigt das Gelände steil zu einem Bergkamm an. "Hier ist es", sagt Petra Lönne nüchtern. Mit festem Schritt marschiert die Archäologin des Kreises Northeim los - und macht die Tür zur Vergangenheit weit auf. "Wir haben ein einzigartig erhaltenes Schlachtfeld aus dem 3. Jahrhundert gefunden." Selten hat eine archäologische Entdeckung in Deutschland solche Spannung erzeugt. Nachdem die ersten Informationen vergangene Woche durchgesickert waren, hatte der vergessene Römerfeldzug die Öffentlichkeit in Atem gehalten (wir berichteten). Jetzt ist das Geheimnis gelüftet.

"Was wir hier gefunden haben, ist eine Sensation", sagt der niedersächsische Landesarchäologe Henning Haßmann. Bislang waren die Historiker überzeugt, dass die Römer nach der Varus-Schlacht im Jahre 9 nach Christus, bei der die Germanen unter ihrem Anführer Arminius die Römer vernichtend geschlagen hatten, nie wieder in den Norden Deutschlands vorgedrungen sind. "Es gab bis ins Jahr 16 nach Christus noch einige Rachefeldzüge, aber dann beendete Kaiser Tiberius die römische Landnahme im Norden", sagt Haßmann. Das jetzt entdeckte Schlachtfeld zeige, dass es doch anders war. Und dass, wie Experten meinen, "die Geschichte in Teilen neu geschrieben werden muss".

Die einzigartige Geheimoperation "Römerschlachtfeld" begann vor fünf Monaten, als zwei Kalefelder Schatzsucher bei Archäologin Lönne präsentierten, was sie bereits acht Jahre zuvor mit ihren Metallsonden gefunden hatten. "Wir waren auf der Suche nach einer mittelalterlichen Burg", erzählt Winfried Schütte, einer der beiden. Die entdeckten sie nicht, sondern nur einige stark verrostete Katapultgeschosse und Lanzenspitzen. Die landeten zunächst in einer Schublade. Erst dieses Jahr begann Schütte die Fundstücke zu reinigen. Weil er nichts damit anfangen konnte, stellte er Fotos ins Internet. Darunter eins von einem speziellen Pferdebeschlag, einer sogenannten Hipposandale. "Ich bekam Hinweise, dass sie aus der Römerzeit stammt", sagt Schütte.

Die Kreisarchäologin handelte sofort. Nachdem klar war, dass in dem Waldstück weitere Fundstücke aus römischer Zeit lagen, startete sie mit Unterstützung des Landes eine Untersuchung. Aus Furcht vor Raubgräbern sorgfältig abgeschirmt, durchforsteten Experten das Gelände und förderten Lanzenspitzen, Katapultgeschosse, Pfeilspitzen und Nägel von römischen Sandalen zutage. Insgesamt 600 Fundstücke auf einem Areal von 1,5 Kilometer Länge. Auch Grabungstechniker Harald Nagel ging tagelang mit seiner Metallsonde über den Waldboden - und machte einen wichtigen Fund: eine stark abgenutzte römische Münze des Kaisers Commodus, die sich eindeutig auf die Zeit nach 190 datieren lässt. Weiterer Glücksfall: An den Lanzenspitzen fanden die Archäologen Holzreste, die sich mithilfe naturwissenschaftlicher Methoden ebenfalls im 3. Jahrhundert einordnen ließen. "Wir können jetzt sagen, dass 200 Jahre nach der Varus-Schlacht die Römer Germanien weit mehr kontrollierten als bislang geglaubt", so Landesarchäologe Haßmann.

Eine Tatsache, die Historiker bislang für unmöglich gehalten hatten. "Anders als bei der Varus-Schlacht gibt es keine schriftlichen Quellen", sagt Günther Moosbauer von der Universität Osnabrück. Berichte von römischen Kaisern, in denen von Feldzügen jenseits des Limes die Rede war, wie von Herodian, galten als wenig glaubhaft. Rätsel gaben den Wissenschaftlern die Feldzüge des römischen Kaisers Maximinus Thorax auf, der zwischen 235 und 238 bis nach Germanien vorgedrungen sein soll. Auch Überlieferungen, nach denen die Römer lange nach ihrem Rückzug hinter den Limes immer wieder nach Germanien marschiert waren und sogar "bis an den Ozean" kamen, erscheinen nun in einem anderen Licht. "Nach der Entdeckung des Schlachtfeldes müssen wir die Quellen neu bewerten", sagt Althistoriker Moosbauer.

Was das für die Geschichtsschreibung bedeutet, ist noch offen. Im nächsten Jahr soll eine große Ausgrabung des Schlachtfelds bei Kalefeld folgen. Die Forscher hoffen, dass sie Befestigungs- und Schanzanlagen, womöglich sogar Gräber finden. Auch wurden bislang noch keine germanischen Waffen entdeckt.

Den Verlauf der historischen Schlacht meinen die Wissenschaftler inzwischen rekonstruieren zu können. "Wir glauben, dass etwa 1000 Römer auf dem Rückweg aus dem Norden waren", sagt Archäologin Lönne. Die Germanen hätten ihnen den Weg abgeschnitten, sie in die Enge getrieben und zum Aufstieg auf den Harzhorn gezwungen. Dort oben hatten Germanen schon den Hinterhalt vorbereitet. Doch waren die römischen Soldaten übermächtig, auch weil sie mit für damalige Verhältnisse hochmodernen Waffen ausgerüstet waren. "Die Germanen wurden geschlagen", sagt Lönne. Als Beweis dient ihr eine Spur Hunderter Nägel von Sandalen, die die Römer vor 1800 Jahren verloren haben und die jetzt wieder aufgetaucht sind. "Man kann genau sehen, auf welchem Weg die Soldaten gekommen und wie sie über den Bergkamm marschiert sind."