2008 ist das Jahr der Mathematik. Christoph Drösser, Wissenschaftsjournalist und Autor des Klett-Verlages (“Der Mathematik-Verführer“), erklärt...

2008 ist das Jahr der Mathematik. Christoph Drösser, Wissenschaftsjournalist und Autor des Klett-Verlages ("Der Mathematik-Verführer"), erklärt einmal im Monat im Abendblatt mathematische Alltagsphänomene.

Mathematiker rechnen, so lautet ein Vorurteil. Die ägyptischen Gelehrten des Altertums berechneten die Pyramiden, ihre modernen Nachfolger beschäftigten sich mit komplizierten, aber greifbaren Dingen wie den Gewinnchancen beim Roulette oder dem Lohnsteuerjahresausgleich.

Während viele Mathematiker tatsächlich mit solchen weltlichen Problemen befasst sind, protestieren die akademischeren von ihnen heftig, wenn man ihnen mit der profanen Wirklichkeit kommt. Obwohl sie eigentlich ganz rationale Menschen sind, glauben sie fest daran, sich in einer Parallelwelt, eben der mathematischen, zu bewegen und dort unbekannte Kontinente zu entdecken. Zwar sagte der Mathematiker Leopold Kronecker 1886: "Die ganzen Zahlen hat der liebe Gott gemacht, alles andere ist Menschenwerk" - aber die meisten Mathematiker sind davon überzeugt, dass nicht sie es sind, die die mathematischen Objekte erschaffen, sondern dass diese in höheren Sphären existieren. Marsmenschen, wenn es sie gäbe, würden im Prinzip die gleiche Mathematik entdecken wie wir.

Wenn die Welt der Mathematik aber so entrückt ist von der Wirklichkeit - wieso beschreibt sie sie dann so akkurat? "Wie ist es möglich", fragte sich Einstein, "dass die Mathematik, die ein von aller Erfahrung unabhängiges Produkt des Denkens ist, auf die Gegenstände der Wirklichkeit so vortrefflich passt?" Er hatte seine Relativitätstheorie abstrakt aufgestellt - die Gleichungen waren nach seiner Ansicht so elegant, dass sie stimmen mussten. Der ersten experimentellen Überprüfung (dem Nachweis "verbogener" Lichtstrahlen bei einer Sonnenfinsternis) sah er gelassen entgegen - die Beobachtungen bestätigten, dass er recht hatte.

Auch heute kommt es immer wieder vor, dass eine mathematische Theorie, die vor 100 oder 150 Jahren entwickelt wurde, plötzlich eine Anwendung in der modernen Physik findet. Um das zu erklären, betrachten immer mehr Forscher die Mathematik als das Produkt einer Art Evolution: Sie sei doch Menschenwerk, sagt etwa der französische Hirnforscher Stanislas Dehaene, die Mathematiker probierten unterschiedliche Wege, und es setzten sich jene durch, die am besten zur Beschreibung der Wirklichkeit taugen. Und dass die gesamte Welt in der Sprache der Mathematik geschrieben sei, wie Galilei sagte, halten selbst einige Mathematiker für übertrieben. "Es ist nur ein Glaube der Wissenschaftler, dass die Welt in den Formeln beschrieben werden kann, mit denen die Mathematik hantiert", sagt der Mathematiker Richard Hamming. Was Wahrheit, Schönheit und Gerechtigkeit sind, werde uns die Naturwissenschaft nie erklären können.