Reiches Land - große Menschen: Die Gleichung stimmt nicht immer. Entscheidend ist, wie Wohlstand und soziale Sicherheit im Volk verteilt sind.

Potsdam. Knarrende Treppenstufen, kühle Mauern und düsteres Licht versetzen den Besucher der Burg romantisch ins Mittelalter, bis ein dröhnender Kopfschmerz ihn in die Gegenwart zurückreißt. Irgendwie hat der Besucher die Warnung des Führers überhört: Nicht nur die Menschen waren damals kleiner als heute, sondern dementsprechend auch ihre Türen niedriger - und schon donnert der Kopf gegen den Rahmen.

"Früher waren die Menschen einfach kleiner, weil sie ärmer waren", lautet die gängige Erklärung für dieses Phänomen. Der Umkehrschluss, dass im Laufe der Zeit die Menschen immer reicher und damit auch immer größer würden, ist aber nicht unbedingt richtig. So waren bereits die Kolonisten in den heutigen USA im 18. Jahrhundert durchschnittliche 173 Zentimeter lang und übertrafen damit die Europäer um drei bis neun Zentimeter, erklärt John Kromlos, der sich an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) mit dem Zusammenhang zwischen Körpergröße und Wirtschaftslage beschäftigt. Der Grund für den Wachstumsschub bei den weißen Amerikanern: Amerika bot reiche Ressourcen, um die damals nur wenig Menschen konkurrierten. Die Kolonisten hatten ausreichend zu essen, was im krisengeschüttelten Europa damals oft nicht der Fall war.

Bis Mitte des 20. Jahrhunderts überragten die Amerikaner die meisten anderen Völker, doch dann kehrte sich das Verhältnis um, zeigt Kromlos in einer neuen Studie, die er mit seinem Kollegen Benjamin E. Lauderdale von der Princeton-Universität in Kalifornien anfertigte. "Mittlerweile sind die Amerikaner kleiner als die meisten West- und Nordeuropäer, obwohl sie nach offiziellen Zahlen an Reichtum gewonnen haben", sagt Kromlos. Sie lägen im Schnitt sogar sechs Zentimeter unter den Spitzenreitern der EU, den Niederländern.

Woran liegt das?

Prinzipiell habe sich der bekannte Zusammenhang zwischen Einkommen und Körpergröße über die Jahrzehnte bestätigt, so die Forscher: "Wer mehr verdient, versorgt in der Regel auch seine Kinder besser, die dann ihr physisches Potenzial maximal ausschöpfen können", erklärt Kromlos. Vor allem die Lebensbedingungen während Kindheit und Jugend spiegelten sich später in der Körpergröße des Erwachsenen wider. "Wir vermuten deshalb, dass die Gesundheitssysteme und die hohe soziale Sicherheit der Europäer günstigere Bedingungen für Heranwachsende schaffen als das amerikanische Gesundheitssystem, obwohl dieses die Bevölkerung doppelt so viel kostet", sagt der Wirtschaftshistoriker. Hier spielten zudem vermutlich große soziale Unterschiede zwischen den amerikanischen Bevölkerungsschichten eine große Rolle für die im Schnitt gesunkene Körpergröße.

"So leben etwa 15 Prozent der US-Population ohne medizinische Versorgung, medizinische Versicherung und deshalb mit mangelhafter Absicherung, während in weiten Teilen Europas ein Minimum an Schutz für die gesamte Bevölkerung garantiert ist", so Kromlos.

In amerikanischen Städten gebe es zudem bestimmte Viertel mit außerordentlich schlechten Lebensbedingungen, ohne ausreichende Hygiene oder medizinische Versorgung: "Vermutlich führen all diese und weitere Faktoren dazu, dass die USA als eines der reichsten Länder der Erde an Körpergröße und Lebenserwartung hinter anderen Industrienationen herhinkt und zudem unter den reichen Ländern die höchste Säuglingssterblichkeit zu beklagen hat."

Dass die Ernährung gerade in der Wachstumsphase junger Menschen Weichen fürs Leben stellt, ist hinlänglich erforscht. Sie decken mit dem Essen zunächst einmal den aktuellen Bedarf ihres Körpers. Den Rest der Energie in der Nahrung aber stecken sie ins Längenwachstum, während solche Reserven einen Erwachsenen eher in die Breite gehen lassen. Bessere Ernährung lässt Jungen und Mädchen daher größer werden.

Ähnlich wie den amerikanischen Kolonisten im 18. Jahrhundert ging es wohl auch schon den Eiszeitmenschen: Für die geringe Population gab es reichlich Ressourcen, die damals in Form von Mammuts durch die Eiszeitlandschaft stapften. Vor allem tierisches Eiweiß fördert das Körperwachstum, und die Menschen der Eiszeit waren fast so groß wie der moderne deutsche Mann mit seinen durchschnittlich gut 180 Zentimetern.

Als die Menschen die Landwirtschaft entdeckten, war das eine ähnliche Revolution wie später die Industrialisierung. Ackerbau und Viehzucht verbesserten zwar die Versorgung enorm, das Getreide vom Herbst sicherte den ganzen Winter über die Ernährung. So konnten auf der gleichen Fläche viel mehr Menschen leben. Die aber waren kränker als ihre Vorfahren, die noch Mammuts jagten. Damals gab es zwar auch Infektionskrankheiten, die sich aber viel schlechter verbreiteten, weil die Menschen nicht so nah beieinanderlebten wie die Ackerbauern. War ein Ackerbauer einmal krank, gab er die Krankheitskeime dagegen rasch weiter; und weil solche Krankheiten viel Energie kosten und vor allem Kinder treffen, konnte der Nachwuchs weniger Kraft ins Wachsen stecken, und die Bauern der Jungsteinzeit waren etliche Zentimeter kleiner als ihre Vorfahren.

Besser wurde die Situation im 9. bis 11. Jahrhundert, als das Klima besonders mild war und die Ernten reichlicher. Die Männer erreichten in jener Zeit wieder stattliche 173 Zentimeter. Dann aber kam die kleine Eiszeit, die Ernten wurden schlechter - und die Menschen wieder kleiner: Im 18. Jahrhundert maßen deutsche Männer nur noch 167 Zentimeter, die französischen gar nur 161 Zentimeter. Kein Wunder, dass die Betten aus der Zeit zu kurz und die Türen zu niedrig für den modernen Mitteleuropäer sind.

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wuchsen die Deutschen wieder, weil das Wirtschaftswunder reichlich Essen auf den Tisch brachte und eine gute Sozialvorsorge ermöglichte. War der deutsche Rekrut 1957 noch durchschnittlich 174 Zentimeter lang, erreichte er 1999 bereits 180 Zentimeter.

Aber wie lange wachsen wir noch weiter? Humanbiologen sehen in weiten Teilen Europas das Limit erreicht. "Die Möglichkeiten, die in den Genen liegen, sind irgendwann ausgeschöpft", sagt Holle Greil von der Universität Potsdam.