Die Geschichte der motorisierten Fliegerei begann am 18. November 1903 in der Vahrenwalder Heide - vier Monate vor dem Versuch der Gebrüder Wright.

Wer hat das erste motorisierte Fluggerät erfolgreich in die Luft gebracht? Meist lautet die Antwort: "Natürlich die Gebrüder Wright aus den USA!" Doch das ist falsch! Der erste Tollkühne mit einer fliegenden Kiste, dessen Luftfahrt auch bezeugt ist, war der Deutsche Karl Jatho.

Vier Monate vor Orville und Wilbur Wright, die am 17. Dezember 1903 die Schwerkraft der Erde überwanden, hob der Motordrachen des Magistratsbeamten Jatho vom Boden der Vahrenwalder Heide bei Hannover ab. In 75 Zentimeter Höhe sauste er 18 Meter dahin. Die Geschichte der motorisierten Luftfahrt beginnt also am 18. August 1903 und nicht in den Sanddünen Kitty Hawks, sondern im Norden des deutschen Kaiserreichs. Für den Beamten war es damals nicht einfach, seinen Pioniertrieb auszuleben. Hatte er sich als Staatsdiener doch untadelig zu verhalten und sich nicht mit solchen "Spinnereien" abzugeben. Er radelte auf dem Hochrad zu seinem Flugzeugschuppen in der Heide, stets bemüht, die Tätigkeiten geheim zu halten, denn Jatho gab sich nicht mit dem Hopser des ersten dreiflächigen Fluggerätes zufrieden. Er bastelte den "Motordrachen 2" und reduzierte das Modell um eine Tragfläche. Selbst dieser Doppeldecker hob noch vor dem wrightschen "Flyer 1" ab.

Im November 1903 flog Jatho etwa 60 Meter weit und erreichte eine Höhe von über drei Metern. Bei den Flügen waren Zeugen dabei, die den Erfolg beurkundet haben. Die Wrights schafften beim ersten Flug lediglich 37, beim zweiten 260 Meter.

Wie kommt es, dass Jathos Leistung nicht die internationale Würdigung erfährt? In der Top 100 "Helden der Luftfahrt"-Liste der amerikanischen Zeitschrift "Aviation Week" stehen die Wrights auf Platz eins, während Jatho nicht zu finden ist. Auch im Onlineangebot des Magazins findet sich keine Zeile über den deutschen Luftfahrtpionier, dessen Flugapparate später von kaiserlichen Soldaten bewacht wurden. Viele andere deutsche Flugzeugbauer und -piloten sucht man ebenfalls vergebens auf der Liste.

Das anerkannte und in wissenschaftlichen Fragen als oberste Instanz geltende Smithonian Institute erkannte die Wrights erst auf Druck des amerikanischen Kongresses 1942 als erste Motorflieger an - obwohl dieses zuvor abgelehnt worden war. Man bezeichnete den Flug der beiden Amerikaner einfach als ersten "gelenkten" Flug und meinte so, die unpopuläre Konkurrenz aus Europa ausschalten zu können.

Doch Jathos Motordrachen hatten sowohl ein Höhen- als auch ein Seitenruder, der Flug war daher ebenfalls kontrolliert. Außerdem hoben die Maschinen des Deutschen aus eigener Kraft ab, während sich die amerikanische Konkurrenz eines Katapults bedienen musste.

1948 holte das Institut den "Flyer 1" in ihre Hallen. Dies soll jedoch an merkwürdige Bedingungen geknüpft sein, die noch heute Gültigkeit besitzen. So darf das Institut nicht behaupten, dass es einen motorisierten und gelenkten Flug vor den Wrights gab, sonst müssen sie das Fluggerät an die Erben zurückgeben.

Auch soll es sich bei dem Exponat um das Original des "Flyer 1" handeln. Dieser wurde jedoch beim vierten Flugversuch von einer Windböe erfasst und total zerstört. Sowohl Jatho als auch die Gebrüder Wright könnten noch einen Platz nach hinten rutschen, wenn man den Mittelfranken Weißkopf oder Whitehead, wie er sich nach seiner Ausreise in die USA nannte, dazuzählt. Nach Schlosserlehre und kurzem Aufenthalt in Hamburg zog der spätere Flugapparatekonstrukteur im Jahr 1895 nach Boston, später nach Pittsburgh. Hier bastelte er 1901, also zwei Jahre vor der Konkurrenz aus der neuen und alten Heimat, an einem Flugzeug, seiner "Nr. 21". Angetrieben von einem 20-PS-Motor, der die beiden Propeller bewegte und damit in der Luft für Schub sorgen sollte. Während Jatho und die Wrights darauf achteten, dass bei ihren Flugversuchen Zeugen dabei waren, fehlen diese bei Weißkopf. Fotos von seiner fliegenden Kiste gibt es nur am Boden. Lediglich in einem Zeitungsbericht des "Sunday Herald" erwähnt ein Reporter, er habe den Flugpionier fliegen sehen. Doch ein Beweisfoto gibt es nicht. Gustav Weißkopfs Gefährt soll 800 Meter geflogen sein und eine Höhe von fünfzehn Metern erreicht haben. Wenn dies zutrifft, wären die Erstflüge von Jatho und den Wrights eher Hüpfer.

Wie die Definition für einen Flug auch immer lautet, der Name Jatho gehört in die Liste der Motor-Luftfahrtpioniere, wenn nicht an deren Spitze. Vielleicht wird dem Mitbegründer des ADAC irgendwann die Anerkennung zuteil. Vielleicht wenn im April oder Mai dieses Jahres ein Nachbau des "Motordrachens 2" in die Luft steigt.