Die Wildkatze verhält sich in Gefangenschaft ganz anders als in der Freiheit - aus dem treu sorgenden Familientier wird in freier Wildbahn ein überzeugter Einzelkämpfer. In der Natur hat der Luchs vor allem einen Feind - die Angst der Menschen.

Aus dem Stand springt Momo auf den Rücken von Thomas Burmester. Schnurrend leckt ihm das Luchsweibchen den Kopf. Ihre mächtigen Pranken ruhen auf seinen Schultern. Der Wildbiologe und das Raubtier mögen sich.

Burmester hat seine Doktorarbeit über Luchse geschrieben: Über die Kätzin Momo und Attila. Nach der Geburt lebten die Großkatzen zunächst mit dem Biologen in dessen Wohnung. Doch nachdem die Nahrung der Welpen nach drei Monaten mit Fleisch versetzt wurde, war der Gestank der Exkremente unerträglich. Die Tiere zogen in ein Gehege der Uni Göttingen.

Burmester hat viel herausgefunden über Lynx lynx, wie der Europäische Luchs im Fachjargon heißt. Er beobachtete, dass Luchse 46 Prozent der Zeit schlafen oder ruhen und die Kuder (Männchen) während der jährlichen, dreitägigen Hochranz bis zu 30-mal am Tag kopulieren. Außerdem entwickelte er eine Formel, die anhand des Kots bestimmt, welche und wie viele Beutetiere der Luchs gefressen hat. Und er konnte zusehen, wie der Nachwuchs den kräftigen Attila beim Kampf um die Beute in die Flucht schlug. "Bei Rudeltieren wie dem Wolf wäre das undenkbar", sagt Burmester. Luchse kennen keine Hierarchie und kein Alphatier: Der Hungrigste darf sich zuerst satt fressen.

Die größte Überraschung war, dass Luchse, die in der Natur Einzelgänger sind, ein idyllisches Familienleben führten. Dies widerspreche der Lehrmeinung und unterscheidet sie von den meisten Katzenarten. Luchse, davon ist der Biologe überzeugt, bleiben nur allein, weil sie sonst nicht genug Beute bekämen. Ein Indiz dafür ist die Größe ihrer Reviere: Sie können 400 Quadratkilometer umfassen, sind aber kleiner, je mehr Rehe, Hirsche oder Hasen es gibt. "Der Luchs ist ein soziales Tier", sagt Burmester. "Als wir Attila die Nahrungssuche abnahmen, kümmerte er sich sogar um den Nachwuchs. In der Natur sieht der Vater seine Nachkommen nie."

Inzwischen hat auch Attila seine Sprösslinge aus den Augen verloren. Die streifen durch den Harz. Sie gehören zu den 22 Luchsen, die dort seit 2000 ausgesetzt wurden. "Die Kunst beim Auswildern ist es, scheue Tiere auszuwählen", sagt Burmester. Zwei Luchse in Niedersachsen seien dagegen zu zahm gewesen, berichtet Ole Anders vom Nationalpark Harz: "Die saßen dickfellig am Wegesrand und beobachteten die Wanderer." Zwar wurden die 70 Zentimeter großen Katzen gegenüber Menschen nie aggressiv, aber es gab besorgte Anrufer. Die Luchse mussten weg.

Dennoch wächst die Population im Harz. Laut Anders wurden bisher 26 Jungtiere in freier Wildbahn geboren. Das Ziel des Auswilderungsprojekts, den Luchs wieder anzusiedeln, scheint zum Greifen nah. Doch Anders ist zurückhaltend: "Wir haben uns schon oft getäuscht." Sechs ausgewilderte Luchse seien verendet. Hauptursache sei die durch den Fuchs übertragene Räude. Seit Füchse sich wegen der Tollwut-Impfungen nahezu ungehemmt im Harz ausbreitet, sei die durch Milben ausgelöste tödliche Erkrankung auch für die Raubkatzen ein Problem.

Experten warnten schon früh, dass der Harz mit seinen 2200 Quadratkilometern viel zu klein sei für eine stabile Population. Bei weniger als 50 Tieren könnten schon Zufälle dafür sorgen, dass eine Art wieder verschwindet, mahnt Marco Heurich, Leiter eines Luchsprojekts im Bayerischen Wald. "Sind nur wenige Weibchen da, kann es fatal sein, wenn ein Tier überfahren wird, andere an Räude eingehen, eins sich verletzt und der Nachwuchs des nächsten kurz nach der Geburt stirbt."

Diese Sorgen hat Heurich in Bayern nicht. Nachdem im heutigen tschechischen Nationalpark Sumava in den 1980er-Jahren 17 Luchse ausgesetzt wurden, ziehen nun etwa 70 Tiere in einem Streifen von Österreich über Bayern und Tschechien bis nach Sachsen umher.

Um auch genetisch auf der sicheren Seite zu sein, wären weit mehr Tiere unterschiedlicher Herkunft nötig. Erst ab einer Populationsgröße um 500 müsste man langfristig keine Defekte fürchten, so Heurich: "Ein so großer Genpool hat auch den Vorteil, dass sich die Tiere an Veränderungen wie den Klimawandel besser anpassen." Dafür müssten sich die Populationen, die isoliert voneinander leben, vermischen. Ideal wäre ein Biotopverbund über weite Teile Europas. Doch davon ist man weit entfernt, auch wenn einige Tiere ihre Streifzüge weiter ausdehnen: Harzer Luchse wurden schon im Solling und bei Braunschweig gesichtet.

Zum Verhängnis könnte dem Luchs werden, was ihn in Deutschland vor 200 Jahren schon mal zur Strecke brachte: Vorurteile. Damals stand er als hinterhältiger, aggressiver Nahrungskonkurrent auf der Abschussliste. In Nordrhein-Westfalen machte man ihm 100 Jahre vor dem Wolf den Garaus, den letzten Luchs im Harz hetzten 200 Treiber und Jäger elf Tage durch den Wald, bevor sie ihn am 17.3.1818 bei Lautenthal erschossen.

Wenn heute ein Schaf oder eine Ziege gerissen und der Luchs als Übeltäter vermutet wird, schlägt die Stunde der Luchsberater. Akribisch untersuchen sie, ob die Raubkatze es wirklich war. Stellen sie den Luchs-typischen gezielten Kehlbiss fest - frisch erbeuteten Tieren sieht man die Verletzung durch die scharfen Zähne kaum an - so werden die Tierbesitzer entschädigt. Doch der Verdacht bestätigt sich selten. Im Harz sind es Anders zufolge zwei bis drei Fälle jährlich. Im Bayerischen Wald war der Luchs laut Heurich von Ende der 90er-Jahre bis 2005 nachweislich 39-mal der Täter. Das kostete 665 Euro Entschädigung.

Obwohl der Luchs scheu ist und Menschen meidet, fürchten die Menschen vielerorts um die eigene Gesundheit. Gerd Ahnert vom Nationalpark Eifel spürt das, wenn er mit Anwohnern oder Besuchern spricht. "Leute, die die Tiere nicht kennen, haben Angst", sagt er. Deshalb werden in Nordrhein-Westfalen vorerst keine Luchse angesiedelt. Es wird dort wohl bei den wenigen Luchsen bleiben, die aus Belgien oder Rheinland-Pfalz kommen. Ahnert: "Die Jäger haben Angst um ihr Rehwild, kommunale Politiker befürchten Einbußen bei der Jagdpacht."

Wöchentlich vertilgt ein Luchs etwa ein Reh aus dem üppigen Bestand. Doch die Jäger fürchten, dass Wild abwandert, sobald sich ein Luchs im Revier aufhält. Möglich wäre auch, dass Rehe und Hirsche ihr Verhalten ändern, etwa am Mittag aus der Deckung kommen, wenn Luchs und Jäger nicht aktiv sind. Beobachtungen sprechen Heurich zufolge für eine dritte Konsequenz: "Das Rehwild versteckt sich einfach besser."

Welche der Varianten der Wirklichkeit am nächsten kommt, soll in Bayern ein groß angelegtes Projekt klären, das mit Sendern und GPS die Bewegungen von Rehen und Luchsen verfolgt.

Manche Jäger wollen nicht so lange warten. Sie handeln bereits. Laut Thomas Engleder, Bio-Geograf an der Universität Wien, werden jährlich zwischen fünf und zehn Luchse aus der Sumava-Population geschossen. Auch in Bayern würden die Luchse illegal gejagt. "Das größte Problem für Luchse ist die Wilderei", sagt Engleder. Sie sei schuld daran, dass es keinen Ausbreitungsdruck gebe, dass Luchse nicht in die Karpaten oder Alpen zögen.

Solche Schwierigkeiten müssen die Luchse im Harz nicht fürchten. Hier ziehen Naturschützer und Jäger laut Anders an einem Strang. Auch in der Bevölkerung ist die anfängliche Skepsis gewichen. "Das hat sich komplett gedreht." Heute sind die Großkatzen das Wahrzeichen des Harzes und zugleich ein Besuchermagnet. Anders: "Viele Touristen kommen wegen der Luchse."