Gewalt: Warum werden unauffällige Menschen urplötzlich zu Verbrechern - wie der Mörder von Wesselburen? UKE-Psychiater Berner nennt drei Faktoren, die ausschlaggebend sind. Ein Muster aber hat die Forschung noch nicht entdeckt.

Hamburg. Eines Tages in Los Angeles: In der Gluthitze steht auf dem Highway eine Blechlawine, nichts geht mehr. In einem dieser Autos verliert ein harmloser Jedermann die Nerven, steigt aus und macht sich zu Fuß auf den Weg. Das Maß ist voll: Zuerst wurde William Foster von Frau und Tochter verlassen - und jetzt noch das . . . Er knallt durch, wird von einem Moment auf den anderen wegen einer Nichtigkeit zum gesetzlosen Psychopathen, der um sich schießt und jeden bestrafen will, der ihm irgendwie querkommt. Das Drama mit dem Titel "Falling Down" (Michael Douglas in der Hauptrolle) wurde zum Kino-Hit.

Eines Nachts in Wesselburen, Kreis Dithmarschen: Der junge Autofahrer Stefan B. fühlt sich auf der Landstraße von einem anderen bedrängt. Er kann ihm nicht folgen, bremst stattdessen einen unbeteiligten Fahrer aus, tritt zu ihm ans Auto und erschießt ihn durch das geöffnete Seitenfenster. Der Schütze sei ein bis dahin unauffälliger Mann, "der sich kurzfristig entschließt, sein Gegenüber aus relativ banalem Anlass zu bestrafen", wird später ein Polizeibeamter sagen.

Film und Wirklichkeit - bei aller Unterschieden weisen beide Fälle doch etliche Parallelen auf. Sie münden in der Frage: Wie kommt es, dass manche Menschen, von denen man es nie erwarten würde, urplötzlich hemmungslos Gewalt anwenden (dass Stefan B. zwei Jahre zuvor schon ein Mädchen erwürgt hatte, kam erst bei seinem Verhör heraus)? Man sei geschockt, sagte der Wesselburener Schulleiter Werner Broders, "wie nahe das Böse sein kann". Es sei eine große Belastung, "zu erkennen, dass Menschen, die man gekannt hat, zu so etwas fähig sind".

Doch kann man überhaupt voraussagen, ob jemand zum Gewalttäter, gar zum Mörder werden wird?

"Es gibt kein bestimmtes Muster, das Menschen, die morden, kennzeichnet", sagt Professor Wolfgang Berner, Direktor des Instituts für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie an der Uniklinik Eppendorf. Es spielten immer drei Faktoren eine Rolle, wenn jemand in dieser Form gewalttätig werde, aber keiner dieser drei Faktoren allein erhelle, warum ein Mensch so handle.

Erstens müsse man die aktuelle Situation betrachten, in der sich ein potenzieller Täter befindet. Wichtig sei in diesem Zusammenhang, dass allein der Besitz von Waffen schon dazu führen kann, dass jemand aus völlig nichtigem Anlass zum Mörder wird. So sei es vor 20 Jahren auf den Autobahnen um Los Angeles zu Morden gekommen, weil sich Autofahrer von anderen bedrängt fühlten, erzählt der Psychiater. "Zunächst haben sie sich nur mit der Lichthupe angefunzelt, doch als sie im Stau standen, hat wohl mehr als einer im Wutaffekt ins Handschuhfach gegriffen, die Waffe entsichert und den Verfolger abgeknallt. Wer keine Waffe griffbereit hat, kann ganz einfach nicht im Affekt schießen." Allerdings bedeute das nicht, dass jeder, der eine Waffe habe, diese gegen Menschen richten werde. In Wesselburen wird immer noch gerätselt, woher Stefan B. die Pistole hatte, mit der er den Autofahrer Dirk W. erschoss.

Ob jemand aus Wut losbrüllt, zuschlägt oder gar schießt, hängt auch von seiner persönlichen Geschichte ab, so Berner. "Salopp gesagt erhöht eine gute Kinderstube die Hemmung, sich so zu verhalten." Einen Grund dafür entdeckten Hirnforscher, die die Entwicklung des kindlichen Gehirns verfolgen. Mitgefühl ist, so fanden Wissenschaftler heraus, nicht angeboren, sondern nur angelegt. Diese Fähigkeit entwickelt sich erst in den ersten Lebensjahren. Dazu müssen bestimmte Nervenzellen im Gehirn, sogenannte Spiegelneurone, während der Kindheit trainiert werden. Nur wenn Kinder Zuwendung und Vertrauen erleben, werden sie ein gesundes Mitgefühl und Selbstbewusstsein entwickeln, betonen Neurologen.

Doch auch die Kinderstube allein ist kein Schlüssel, um das Geschehen zu verstehen. "Ich bin weit davon entfernt, zu sagen, dass die Kindheit allein ausschlaggebend dafür ist, dass ein Mensch zu einer solchen Tat fähig ist", unterstreicht Berner. Denn längst ist bekannt, dass Kinder aus Hochrisikofamilien nicht zwangsläufig zum Scheitern verurteilt sind. Es war die US-Psychologin Emmy Werner, die dieses mit der legendären "Kauai-Längsschnitt-Studie" eindrucksvoll belegte, die sie vor gut 50 Jahren begann. Sie zeigte, dass nicht alle Kinder an enormen Belastungen, Lebenskrisen oder Schicksalsschlägen zerbrachen, dauerhaft verzweifelten oder darüber in Selbstmitleid versanken. Resilienz heißt diese Fähigkeit, und Psychologen rätseln noch, was diese Kinder so stark macht. Stefan B. fehlte diese Stärke offenbar - obwohl er anscheinend aus geordneten Verhältnissen stammt. Er wohnte in einem gepflegten Einfamilienhaus bei seinen Eltern in einem Neubaugebiet am Rande von Wesselburen. Auto und Motorrad waren seine Hobbys. Selten trank er Alkohol, weil ihm sein Führerschein wichtig war, wird berichtet.

"Der dritte Faktor, der eine Rolle spielt, ist der körperliche Zustand", sagt Professor Berner. "Wir wissen heute viel mehr als früher über Abläufe im Körper, die Aggressivität und Enthemmung begünstigen können. Hormone spielen dabei eine wichtige Rolle." So sei bekannt, dass das Geschlechtshormon Testosteron bei 15 bis 25 Jahre alten Männern dazu führe, dass diese sich gern mit anderen messen. Es könne sie aber auch leicht aggressiv stimmen. "Allerdings begünstigt dieses Hormon keine impulsiven, also unüberlegten Handlungen", stellt Berner klar.

Neben Testosteron beeinflussen die Hormone Cortisol und Serotonin die innere Gestimmtheit. Cortisol ist ein wichtiges Stresshormon. Bei Stresssituationen schnellt es in die Höhe. "Das erhöht die Bereitschaft, das Gegenüber anzuschreien oder sogar anzugreifen. Wenn das Stresssystem dauerhaft überlastet ist, dann steigt die Gefahr, dass derjenige schon bei Nichtigkeiten ausrastet", erläutert Berner.

Das globale Erregungsmuster im Gehirn wird zudem vom Hormon Serotonin verändert. Es lässt uns ruhig schlafen, sorgt blitzschnell für angemessene Reaktionen bei Gefahr, stimmt uns verliebt oder glücklich. "Der Serotonin-Spiegel beeinflusst unzweifelhaft, ob Affekte gebremst oder massiv ausgelebt werden", so Berner. Bei Gewalttätern wurde ein vergleichsweise niedriger Serotonin-Spiegel beobachtet. "Diese Abläufe im Gehirn sind aber so komplex, dass wir sie zum einen nicht pharmakologisch beeinflussen können und zum anderen auch nicht sicher sagen können: Wer einen bestimmten Hormonspiegel hat, der kann zum Täter werden", unterstreicht Berner. "Wir wissen, dass in der Bronx die Gewalt höher ist als in den Vororten von Hamburg, doch das liegt nicht an Hormonen. Wo ständig aggressive Akte geschehen, kommt es schneller zu Überreaktionen." Es hänge eben immer auch davon ab, in welcher Umgebung dieser Mensch sich befinde.

Deshalb sei es auch so schwierig zu erklären, warum Stefan B. zum Täter wurde. Erst die Gespräche mit Gerichtspsychiatern werden wohl klarere Antworten bringen, welche Kombination der drei Faktoren zu den Morden in Wesselburen geführt hat. Doch auch diese Erkenntnis werde nicht davor schützen, so Berner, dass immer wieder unauffällige Jungen plötzlich durchdrehen - "wie gesagt, es gibt kein Muster, das Mörder kennzeichnet".