Physik: Der für 435 Millionen Euro errichtete Forschungsreaktor München II ist Deutschlands teuerstes Mikroskop. Ein Blick ins Innere.

Ein hoher weißer Kasten mit Schornstein im Münchner Vorort Garching verbirgt Deutschlands derzeit teuerstes Mikroskop, den Forschungsreaktor München II, kurz FRM-II. Kameras, riesige Scheinwerfer und Wachpersonal kontrollieren das Forschungsgelände flächendeckend, denn im Innern des FRM-II steht ein Reaktorkern. Er liefert Wissenschaftlern den Stoff, mit dem sie tief in die Geheimnisse der Materie eindringen können, die Neutronen. "Egal ob es sich um Metall, Keramik, Kunststoff oder Eiweißmoleküle handelt, mit dem FRM-II können Forscher unbekannte atomare Strukturen untersuchen, kleinste Webfehler in Materialien entdecken sowie neue Materialien entwickeln", erläutert Professor Winfried Petry, wissenschaftlicher Direktor des FRM-II, der seit März 2004 in Betrieb ist. Der Forschungsreaktor war bis zuletzt auch international umstritten, weil er mit hochangereichertem Uran betrieben wird. Dieses ist atomwaffentauglich.

In das Herz des 435 Millionen Euro teuren Forschungsinstrumentes gelangt man nur in Begleitung und nach intensiver Kontrolle: Dosimeter anstecken, blaue Stoffschuhe überziehen, Schleuse eins, Leibesvisite mit Metalldetektor durch bewaffnete Sicherheitskräfte, Schleuse zwei, dann eine dicke Panzertür - dahinter öffnet sich ein High-Tech-Wunderland. Panda, Puma, Nepomuc, Mira, Heidi oder Resi - insgesamt 19 Instrumente, deren offizielle Bezeichnungen weitaus komplizierter sind, speist der Atomreaktor mit Neutronen, wenn er in Betrieb ist. Weitere Instrumente und neue Versuche werden hinzukommen.

Diese riesige Maschine ermöglicht den Wissenschaftlern internationale Spitzenforschung. Bereits jetzt sind neben den "hauseigenen" Forschern von der Technischen Universität München, die den FRM-II betreibt, 30 Kollegen unter anderem aus Hamburg, Aachen, Dresden, Darmstadt, Göttingen, Stuttgart oder Jülich mit von der Partie.

"Beispielsweise können Wissenschaftler auf einem Monitor die Arbeit einer Einspritzpumpe bei einem laufenden Automotor verfolgen und dabei zeitauflösend messen, wie der Einspritzprozeß im einzelnen verläuft. Das ist wohl das beste Instrument seiner Art weltweit", sagt Professor Petry, während wir von der Galerie die roten, gelben oder blauen Kästen in der gut 20 Meter hohen Experimentierhalle bestaunen, an denen Forscher und Techniker arbeiten.

Solche Neutronenbilder können auch die Materialprüfung revolutionieren. "Mit Neutronen können wir Ermüdungserscheinungen oder feinste Risse, beispielsweise an Turboladern oder Eisenbahnrädern, erkennen, lange bevor es zu einem sichtbaren Schaden oder dramatischen Unfällen wie Eschede kommt", sagt der Experimentalphysiker. So lassen sich auch Baumaterialien durchleuchten und optimieren. "Und wenn unsere Chemiker neue Katalysatoren herstellen, können sie hier bereits an kleinsten Mengen die atomare Struktur ihrer neuen Substanzen analysieren", so Professor Petry und zeigt auf ein kleines, fast unscheinbares Mikroskop, mit dem die Probe im Instrument positioniert wird.

Im Gegensatz dazu ist die "intensivste Quelle für thermische Positronen, die es auf der Erde gibt" ein großer Kasten. Die Positronen, die Antimaterie zum Elektron, entstehen durch spontane Umwandlung von Energie in Materie. Experimente an der Neutronenquelle dienen der Grundlagenforschung - wie etwa die Untersuchungen zu Supraleitung, Bewegung von Polymeren oder zum Formgedächtnis von Legierungen. In spätestens drei, vier Jahren werden 800 bis 1000 Gastwissenschaftler aus aller Welt hier an etwa 30 Instrumenten arbeiten, dessen ist sich der wissenschaftliche Direktor sicher.

Dabei sollen 70 Prozent der Zeit für die Forschung und 30 Prozent der Zeit für Partner aus der Wirtschaft reserviert werden. Die Halbleiterindustrie hat schon Interesse gezeigt. Die Firma Wacker-Silitronic möchte beispielsweise mit Hilfe von Neutronen Silizium zu besonders hochwertigen Halbleitern umwandeln (dotieren). Auch BMW und Siemens wollen den Forschungsreaktor nutzen. "Sogar der amerikanische Technologie-Konzern General-Electric baut jetzt in Garching ein Forschungszentrum", berichtet Professor Petry.

Ein Experiment, das im nunmehr abgeschalteten Garchinger "Atom-Ei" begonnen wurde, wird demnächst sogar in die klinische Phase treten: Die Behandlung von Krebspatienten mit Neutronenstrahlen. "Wir haben bei der Bestrahlung von oberflächennahen Tumoren in der Haut, Speicheldrüsenkrebs und auch teilweise bei Brustkrebs bereits gute Heilungserfolge erzielt. Hier haben wir jetzt eine richtige kleine Strahlenklinik installiert", sagt Professor Petry.

Mitten in der Experimentierhalle steht die Neutronenquelle. Sie ist von einer 1,80 Meter dicken, roten Betonwand umgeben. Ein Fenster im sechsten Stock erlaubt einen Blick auf den Kern, der in einem 9,50 Meter tiefen Wasserbecken ruht. "Wir haben drei, voneinander unabhängige Sicherheitssysteme, mit denen wir die Kettenreaktion im Reaktorkern jederzeit unterbrechen können", betont der Physiker.

Der Reaktorkern löste zunächst heftigen Streit um den FRM-II aus. Zwar besteht die neben dem europäischen Forschungsreaktor in Grenoble stärkste Neutronenquelle Europas nur aus einem einzigen, 70 Zentimeter langen, kreisrunden Brennelement mit einem Durchmesser von 24 Zentimeter, doch in diesem stecken etwas mehr als acht Kilogramm hochangereichertes Uran. Ähnliches Material wird auch zum Bau von Atomwaffen benötigt. Deshalb durfte der FRM-II erst nach langem Hin und Her und nur unter der Bedingung ans Netz gehen, daß bis 2010 ein Ersatz für diesen Brennstoff gefunden wird.

Das ist wohl die größte Herausforderung für die Wissenschaftler am Forschungsreaktor. Denn bislang gibt es keine Brennstäbe aus niedriger angereichertem Uran, die in diesen Kern passen, die gleiche Leistung haben und die gleiche Sicherheit bieten. "Es ist nicht ausgeschlossen, daß wir gemeinsam mit unseren Partnern in Frankreich und den USA dieses Problem lösen", unterstreicht der Wissenschaftler.

Bis dahin werden Jahr für Jahr fünf Brennstäbe im Abklingbecken gleich neben dem Reaktorkern landen. Dort bleiben sie vier Jahre, bevor sie zur vorläufigen Endlagerung ins Zwischenlager Ahaus (NRW) transportiert werden - ein Endlager ist immer noch nicht in Sicht.

"Sie sind nicht kontaminiert", sagt eine helle Computerstimme, nachdem die Ganzkörpermessung in einer winzigen Box mit Detektoren abgeschlossen ist. Erst danach ist der Weg frei, um noch ein paar Sonnenstrahlen zu genießen.