Biochemie: Wenn die körpereigene Müllabfuhr nicht funktioniert, geraten wir aus den Fugen. Doch wie erkennen die “Müllwerker“, wo sie arbeiten müssen?

Wenn die zelluläre Müllabfuhr ihre Arbeit nicht ordentlich erledigt, dann gibt es eine Katastrophe - innerhalb weniger Tage bis Wochen hätte sich unser Körpergewicht verdoppelt und wir würden aus der Form geraten", sagt Dr. Kirsten Lauber. Die mehrfach ausgezeichnete Tübinger Biochemikerin erforscht, wie abgestorbene Zellen im Körper entsorgt werden. Für die Entdeckung einer weiteren "Müllabfuhr" - des lebenswichtigen Eiweißabbaus innerhalb der Zelle - haben zwei Israelis und ein Amerikaner den Chemie-Nobelpreis 2004 erhalten.

Der menschliche Körper besteht etwa aus 50 Billionen Zellen; in jeder Sekunde bilden sich durch Teilung rund vier Millionen neue Zellen. "Täglich sterben zugleich bis zu 100 Milliarden Zellen ab", sagt Kirsten Lauber. Denn alle Zellen des Körpers haben ein "Selbstmordprogramm". Mit ihm vernichten sich geschädigte oder verbrauchte Zellen selbst, um uns gesund zu erhalten. Vor allem Haut, Schleimhäute, Darmwand und Blut müssen sich ständig erneuern, indem frische Zellen gebildet und andere mittels des programmierten Zelltodes, der sogenannten Apoptose, beseitigt werden. Doch wie werden diese Zellen, die zusammen bis zu 200 Gramm am Tag auf die Waage bringen, entsorgt?

Diese Fragestellung sei von großer biologischer Bedeutung und "war weitgehend ungelöst, bis Frau Dr. Lauber mit ihrer Arbeit begann und wichtige Wissensfortschritte erzielte", sagte Prof. Kurt von Figura kürzlich in München. Dort hielt der Träger des Körber-Preises für die Europäische Wissenschaft 2004 die Laudatio auf die Forscherin, die mit dem GlaxoSmithKline Forschungspreis ausgezeichnet wurde. Würden die Zell-Leichen liegenbleiben, so der Forscher, dann würden wir vergiftet werden oder unser Immunsystem würde unsere Körperzellen angreifen. "Diese Bedrohung rührt daher, daß die Hüllen der zellulären ,Leichen' nach einer gewissen Zeit nicht mehr intakt sind. Dann wird ihr Inhalt ins umliegende Gewebe freigesetzt und schädigt dieses", erläutert die Biochemikerin. Deshalb müssen die zellulären "Leichen" schleunigst entsorgt werden. Das ist im Darm oder auf der Haut kein Problem. Dort werden die abgestorbenen Zellen einfach nach außen abgestoßen. Doch wie entledigen sich Muskeln, Leber und andere Gewebe, die den Abfall nicht direkt nach außen entsorgen können, dieses Ballasts? Und wie spüren die körpereigenen "Müllarbeiter" diese Zellen, die sich selbst vernichtet haben, auf?

Längere Zeit schon vermuteten die Forscher, daß diese Zellen zunächst Lockstoffe freisetzen. Sie weisen den Freßzellen, die ständig durch den Körper wandern, den Weg zu ihrem "Einsatzort". "Diese Vermutung wurde von Frau Dr. Lauber experimentell elegant und überzeugend belegt", urteilt Prof. von Figura. Der Lockstoff, von den Forschern als "Find-me"-Signal bezeichnet, ist ein Lipid, ein Fettmolekül also. "Ist die Freßzelle, der Phagozyt, bei seiner Beute angekommen, muß er sie erkennen. Dies wird sichergestellt durch die Präsentation sogenannter ,Eat-me'-Signale auf der Oberfläche der abgestorbenen Zelle. Und um absolut sicher zu gehen, daß gesunde Zellen nicht von den Freßzellen zerstört werden, tragen die gesunden Zellen ,Don't-eat-me'-Signale. So wird ein zelluläres Massaker vermieden", erläutert Kirsten Lauber. Einmal erkannt, verspeist die Freßzelle die abgestorbene Zelle vollständig. Die komplexen Mechanismen, die diesem Prozeß zugrunde liegen, sind allerdings noch längst nicht verstanden.

Doch schon jetzt werfen diese Forschungen ein neues Licht auf die Entstehung von Erkrankungen, bei der das Abwehrsystem gegen körpereigenes Gewebe aktiv wird. Die sogenannten Autoimmun-Erkrankungen können jedes Organ des menschlichen Körpers betreffen - von der Haarwurzelzelle bis hin zur Niere. Bislang ging man davon aus, daß das Abwehrsystem falsch reagiert. "Es mehren sich aber die Hinweise, daß auch die unzureichende Entfernung von abgestorbenen Zellen zur Entstehung von derartigen Krankheiten beitragen kann", sagt Lauber. Nicht zuletzt deshalb wird die Grundlagenforscherin dem programmierten Zelltod weiterhin auf der Spur bleiben.