Naturforscher: Er war furchtlos, kühn und voll zupackender Neugier. Deshalb wird Alexander von Humboldt 200 Jahre nach seiner legendären Südamerika-Tour als erfrischendes Vorbild für die Deutschen gesehen - zumal in Zeiten von Hartz IV und Bedenkenträgerei.

Hamburg. Es war gegen Mittag am Apure, einem Nebenfluss des Orinoko: "Ich ging am Gestade hin, um in der Nähe einen Trupp Krokodile zu beobachten", notiert Alexander von Humboldt. "Indem ich Glimmerblättchen aus dem Sand aufnahm, bemerkte ich die frische Fährte eines Tigers. Das Tier war auf den Wald zugegangen, und als ich dorthin blickte, sah ich 80 Schritte von mir einen Jaguar unter dem dichten Laub einer Ceiba liegen . . . "

Die Rettung aus Todesgefahr dankte der Forscher belastbaren Nerven: "Ich war sehr erschrocken, indessen noch so weit Herr meiner selbst, daß ich Verhaltensmaßregeln befolgen konnte, die uns die Indianer schon für dergleichen Fälle erteilt hatten. Ich ging weiter, lief aber nicht; ich vermied es, die Arme zu bewegen. Wie oft war ich in Versuchung, mich umzusehen, ob ich nicht verfolgt werde! Glücklicherweise gab ich diesem Drang nicht nach . . . "

Die südamerikanische Raubkatze zählt zu den wenigen Hindernissen, von denen sich der wagemutige Wissenschaftler zum Rückzug zwingen ließ. Am 6267 Meter hohen Chimborasso in Ecuador war es die Höhenkrankheit: "Wir bluteten aus dem Zahnfleisch und aus den Lippen, die Bindehaut der Augen war ebenfalls mit Blut unterlaufen." Immerhin: Die erreichten 5760 Meter waren bereits Weltrekord. Und an der brasilianischen Grenze konnte ein sturer Kommandant Humboldts Forschungsziel, die sagenhafte Verbindung zwischen Orinoko und Amazonas zu beweisen, nicht glauben: "Bei der Mutter Gottes! Deshalb kommt ihr aus Deutschland hierher?"

Sonst hielt den jungen Gelehrten in Frack, Weste und Zylinder nichts auf: nicht die Backofenhitze der Grassteppen Venezuelas oder die Gefrierschrankkälte der Himmelspässe Kolumbiens, nicht die Myriaden Moskitos an den Dschungelflüssen oder die ungewohnte Diät aus Affenfleisch und Ameisenpastete, nicht der elektrische Schlag eines Zitteraals oder die drohenden Rasiermesserzähne der Piranhas, auch nicht Erdbeben oder die Schwefeldämpfe der Vulkane.

Schon gar nicht bremsten ihn BAföG-Sorgen, Bürokratie und Bedenkenträgerei. Auch deshalb werden Rang und Ruhm des furchtlosen Forschers jetzt - zum Jubiläum seiner Rückkehr von der epochalen Entdeckungstour nach Süd- und Mittelamerika im Jahr 1804 - neu und zeitgemäß gewürdigt: Für den Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger, Mit-Herausgeber eines neuen "Humboldt-Projekts" mit den wichtigsten Werken des Weltentdeckers (erscheint im Eichborn-Verlag, Frankfurt am Main) ist der adelige Universalgelehrte vor allem ein erfrischendes Vorbild in Zeiten von Pisa, Hartz IV und Agenda 2010.

"Er lebte in ungünstigen Verhältnissen; es war keine günstige Stimmung im damaligen Deutschland", sagt Enzensberger. "Aber er hat sich keine Sekunde aufgegeben" - sehr im Gegensatz zu manchem Mitglied der neudeutschen Studentenschaft mit ihrem Jammer über Studiengebühren, Prüfungsstress oder kulinarische Katastrophen in der Mensa.

Alexander Freiherr von Humboldt (1769-1859) und sein Bruder Wilhelm (1767-1835), der geniale Sprachforscher, Philosoph und Kulturpolitiker, waren standesgemäß erzogen und vom berühmtesten Privatlehrer ihrer Zeit zu humanistischer Universalgelehrsamkeit herangebildet. Doch unbeeindruckt vom uniformsüchtigen Preußentum seiner Zeit steckte der Jüngere sich nicht Ziele bei Hofe, im Staatsdienst oder gar auf dem Schlachtfeld: "Möchtest du ein Eroberer werden?", fragte König Friedrich der Große den Achtjährigen unter den elterlichen Linden in Berlin-Tegel. Antwort: "Jawohl, Majestät - aber mit dem Kopf!"

Die Ambition kam nicht von ungefähr; vor gut 200 Jahren blühte Berlins Geistesleben wie nie zuvor: Der Philosoph Fichte arbeitete dort als Privatgelehrter, der Dramatiker Kleist als Redakteur. Schleiermacher predigte an der Charite, Arnim und Brentano brachten "Des Knaben Wunderhorn" heraus. Rahel Varnhagen empfing in ihrem berühmten Salon Literaten wie Wackenroder, Tieck oder die beiden Schlegel. Zu Besuch kamen Schiller, Jean Paul, Madame de Stael.

Ihnen allen eiferte Alexander von Humboldt nach, und fast alle übertraf er. Nach Studien in Frankfurt/Oder, Hamburg und Göttingen, nach Reisen durch Belgien, Holland, England, Frankreich, Italien und Spanien wagte er 1799 die längste und weiteste wissenschaftliche Entdeckungsreise aller Zeiten - nicht mit Steuerzahlers Geld, sondern auf Kosten seines gar nicht üppigen Erbes. Sie führte ihn fünf Jahre lang durch die unbekannten Dschungel und menschenfernen Eisgebirge Lateinamerikas: Venezuela, Kolumbien, Ecuador, Peru, Chile, Kuba, Mexiko. Auf Maultieren, in Kanus, auf blutenden Füßen, von Moskitos zerstochen, mal hungernd, oft schlaflos, streifte er im Stil eines "Indiana Jones" durch überwucherte Ruinen, sammelte Klimadaten, vermaß riesige Länder, lebte bei Kopfjägern, entdeckte neue Tierarten, sammelte 60 000 Pflanzen.

Das Material füllte 30 Bände mit 1400 Illustrationen, die Herausgabe dauerte 22 Jahre. Charles Darwin schrieb: "Humboldt ist der größte wissenschaftliche Reisende, der jemals lebte." Goethe nannte ihn "eine ganze Akademie" und schwärmte: Sie können in einer Woche nicht so viel aus Büchern lernen, wie er Ihnen in einer Stunde erklärt." Der Freiheitsheld Bolivar feierte Humboldt als "alleinigen wahren Entdecker Südamerikas". Nebenbei hatte der Gelehrte den Guano als Dünger entdeckt, den Bau des Panamakanals vorbereitet und US-Präsident Thomas Jefferson gedrängt, Siedler in den Wilden Westen zu schicken.

Als junger Himmelsstürmer war er ausgezogen, als der weltweit anerkannte letzte Universalgelehrte der Menschheitsgeschichte kehrte er zurück. Seine Vorträge zogen Professoren und Putzfrauen in ihren Bann. "Weit über tausend Menschen atmen kaum, um ihn zu hören", meldete der Dichter Holtei dem großen Goethe nach Weimar. Ganz bewusst wollte Humboldt seine Erkenntnisse nicht nur der Elite, sondern dem ganzen Volk zugänglich machen.

Als er 1859 mit fast 90 Jahren starb, kam ganz Berlin zum Staatsbegräbnis, vom Minister bis zum Schusterjungen, und auch die königliche Familie. Von keinem anderen Menschen stehen mehr Standbilder auf Plätzen in aller Welt, nach keinem anderen sind mehr Städte und Ströme, Buchten und Berge benannt.

Doch vielleicht, sagte Enzensberger jetzt dem Magazin "Der Spiegel", ist es "gar nicht in erster Linie die enorme wissenschaftliche Leistung", die den Weltentdecker heute wieder so populär sein lässt, "sondern diese unbedingte Unabhängigkeit. Er ist das Gegenteil eines Stubengelehrten; er will alles selber sehen und wahrnehmen, nicht nur aus Büchern kennen lernen. Also wird eine riesige Forschungsreise gemacht, und zwar nicht, indem man Anträge stellt oder Planstellen einnimmt, sondern auf eigene Kappe."

Und auch später wusste Humboldt seine Freiheit zu bewahren. Enzensberger: "Man bietet ihm an, er solle Minister werden, Botschafter oder Museumsdirektor - nein, das kann er nicht brauchen. An Stelle der bürgerlichen Sicherheit wählt er das Risiko. Das ist außergewöhnlich." Auch und gerade für die heutige Zeit, die statt der Freiheit die Gleichheit, statt der Leistung den Tarif und statt der Tat die Sicherheit hofiert.

Humboldts höchster Wert? Er ist in Metern zu messen: "Ich habe", schrieb er als alter Mann im Gedenken an seine Umkehr am Chimborasso, "mein Leben lang von dem Bewußtsein gezehrt, daß ich von allen Sterblichen der Welt die größte Höhe erreichte."