Linguistik: Ein Wissenschaftler aus Münster erforscht die Geheimsprache St. Paulis.

Mit zwölf war Klaus Siewert (49) an der Hand seines Vaters auf dem Hamburger Fischmarkt. Seitdem lässt ihn die Hansestadt nicht mehr los. Nachdem der Sprachforscher aus dem westfälischen Münster zuletzt die Sprache der "Ketelklopper" ("Kesselklopfer"), der Hamburger Hafenarbeiter, wissenschaftlich untersucht hatte, widmet er sich jetzt dem "Rotwelsch auf dem Kiez, der Sprache, die Jahrzehnte unter Türstehern und Zuhältern auf St. Pauli verbreitet war". Mehrere Hundert Wörter dieser "Geheimsprache" hat er inzwischen aufgelistet. Sie sollen als Lexikon-Anhang in seinem Buch erscheinen, das noch in diesem Jahr fertig sein soll, dazu Erklärungen über die Herkunft und Bedeutung der Ausdrücke. Trotz des Zusammenhangs mit anderen so genannten Geheimsprachen, die über Jahrhunderte Elemente aus dem Jüdischen und der Zigeunersprache aufgegriffen haben, bezeichnet Siewert die Kiezsprache als "sehr eigenständig". So finden sich "humoristische Elemente", etwa die Bezeichnung "Mitternachtsschlosser" für Einbrecher, "Klau-Baum" für Brecheisen, "Hungerleuchte" für die Taxibeleuchtung oder "Loreleysuppe" für eine dünne und geschmacklose Suppe mit unbekannten Zutaten, getreu der Zeile aus dem Loreleylied "Ich weiß nicht, was soll es bedeuten". Bei seinen Recherchen in Hamburg über die Sprache der Hafenarbeiter vor zwei Jahren war Siewert auf das "Rotwelsch" der Kiezianer gestoßen. Die Neugier des Forschers und Autoren von 15 Büchern zur Sprachgeschichte war geweckt. Dabei stieß er auf zwei unveröffentlichte Tanzlieder aus den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Der Leiter des Quartetts "Die Playboys", Volker Zaum, hatte noch eine Tonbandkopie, "bislang das einzige erhaltene Tondokument der Lieder", so Siewert. In dem Liedtext kommen hochdeutsche und rotwelsche Wörter vor, zum Beispiel "achiele" für Essen, "toff" für gut, "schi lobi" für kein Geld, "geitling" für Ring. Die Kiezsprache war auch unter Markthändlern auf dem Fischmarkt und Schaustellern auf dem Dom verbreitet, fand Siewert heraus. So erinnerte sich ein Hamburger, dessen Vater einen Schießstand auf dem Dom betrieben hatte, an Redewendungen aus den 30er-Jahren. Ein Beispiel: "Hol mal den Seegers ausser Spiese, er soll Figine machen." Übersetzt heißt das: "Hol mal den Kerl aus der Kneipe, er soll den Verkauf anstoßen", wobei "Figine" die Bedeutung von Zauberei, Täuschung, leichter Betrug hat. Eine der seltenen schriftlichen Quellen, auf die der Sprachforscher zurückgreifen kann, ist die 1000-Wörter-Sammlung des ehemaligen Kiez-Kellners, Barbesitzers und Spirituosenhändlers Günther Silvester. Titel: "Nachtjargon von A bis Z", erschienen um 1968. Abendblatt-Leser Georg Andresen hatte dem Wissenschaftler dieses Büchlein zugeschickt, als er im vergangenen Jahr von dessen Sprachforschungen über die Hafensprache erfahren hatte. Eine Kostprobe: "Mach'n Seit stepp, sonst gibt's Hongkong-Schwalben." Auf Hochdeutsch heißt das etwa: Geh aus dem Weg, sonst gibt es einen Schlag mit der Handkante. Siewert ist unermüdlich auf der Suche nach weiteren Quellen und Zeugen, die etwas zur Kiezsprache beisteuern können oder irgendwelche Unterlagen dazu haben: "Das kann auch Hingekritzeltes auf Bierdeckeln oder Abreißzetteln sein", sagt er. Die bisher gesammelten Ausdrücke hat er sich bereits von "Gewährsleuten" aus St. Pauli erklären und bestätigen lassen. "Aber es ist immer schwieriger, an verlässliche Zeugen zu kommen", sagt er. Hinweise zur Kiezsprache (auch Fotos zur Buchillustration) an: Dr. Klaus Siewert, Robert-Koch-Str. 12, 48149 Münster, 0251/849 32 39. Der Sprachforscher ist vom 4.-6.9. in Hamburg (Hotel St. Annen): 040/31 77 13-0, Fax: 31 77 13-13.