Dortmund. Die ersten Lebensjahre gelten als prägend, doch die Ausgangslage ist für Kinder je nach Familie anders. Gerade die, die von einem Kita-Besuch am meisten profitieren würden, sind vom Platzmangel besonders betroffen.

Drei Mädchen, ein Junge, eine Pädagogin und ein kleines Erzähltheater: Alina, Ronja, Adisha und Milo - allesamt drei oder vier Jahre alt - sitzen in einer gemütlichen Ecke in einer Dortmunder Kita. Sprachförderkraft Petra Hahn schlägt einen Mini-Gong und öffnet die Türen des ausklappbaren Papiertheaters - und los geht's.

Vorn auf den Bildtafeln geht es um Karneval, die Jahreszeiten, den Frühling - hintergründig um Wortschatz, Begriffsbildung, Erzählfähigkeit. „Was kommt denn nach dem Winter?“, fragt die Pädagogin. „Ostern“, sagt Ronja. „Und was fliegt am Himmel?“

Das weiß die indischstämmige Alina: „Ein Schmetterling und ein Vogel, die bauen Nester.“ Die Kleinen sind ganz bei der Sache, suchen manchmal etwas länger nach den passenden Worten, auch mal mit Gestik, aber sie alle sind aktiv und mit Freude dabei - und machen sprachliche Fortschritte, wie Petra Hahn berichtet.

Sprachförderung bei Eltern beliebt

In der städtischen „FABIDO-Kita Berliner Straße“ werden 70 Kinder von null bis sechs Jahren in vier Gruppen betreut. 26 Nationalitäten sind vertreten. „Wir haben einen sehr hohen Anteil von Kindern mit Migrationsgeschichte, unsere Kinder kommen aus Familien mit unterschiedlichem Bildungsniveau und verschiedenen kulturellen Hintergründen“, schildert Leiterin Rosaria Caravante.

Sprachförderung wird großgeschrieben. Das Team besucht dazu auch Fortbildungen. Ein Sprachkoffer mit Spielen zur Wortschatzerweiterung wandert durch die vier Gruppen. Petra Hahn holt zur gezielten Sprachförderung auch einzelne Jungen und Mädchen mit besonderem Bedarf aus den Gruppen - etwa aus bildungsfernen Familien oder Kinder wie Anour (4), der noch kein Deutsch konnte, als er vor Monaten in die Kita kam.

Das alles geht dank einer selten guten Personaldecke. Aber sehr, sehr viele Kinder müssen abgewiesen werden. „Ich habe 21 freie Plätze ab Sommer und 420 Namen auf der Warteliste“, bedauert die Leiterin der Einrichtung, die auch Familienzentrum und Kultur-Kita ist.

Plus für Kinder aus nicht privilegierten Familien

Vor allem Kinder aus sozial schwächeren Familien können bei kognitiven Kompetenzen vom Besuch einer Kita besonders stark profitieren. Einer Studie des Leibniz-Instituts für Bildungsverläufe (LIfBi) zufolge lassen sich etwa bei Wortschatz oder einem ersten mathematischen Grundverständnis herkunftsbezogene Unterschiede verringern.

Allerdings: Gerade Kinder aus benachteiligten Familien mit wenig ökonomischen, kulturellen und sozialen Ressourcen sind wesentlich stärker von fehlenden Betreuungsplätzen betroffen als Jungen und Mädchen aus bessergestellten Familien.

Eine Untersuchung mit fast 1000 Kindern mit einem langen Beobachtungszeitraum von mehreren Jahren ergab, dass Kinder aus sozioökonomisch schwächeren Haushalten deutliche größere Vorteile aus einem Kitabesuch ziehen als Kinder aus privilegierteren Familien.

Das gelte etwa bei ersten mathematischen Vorläufer-Fähigkeiten wie Mengenangaben, erläutert Studienautorin Corinna Kleinert. Auch beim Wortschatz zeigten sich bei Kindern, die mit zwei Jahren in eine Kita kamen, drei Jahre später sehr positive Auswirkungen. Ähnlich sah es mit der Fähigkeit aus, Dinge zuzuordnen und erste Schlussfolgerungen zu ziehen.

Auch für den Staat von Interesse

Ein Kita-Besuch könne also ein soziales Gefälle in den kognitiven Kompetenzen von Kindern vermindern, sagt Kleinert. Umso bedauerlicher: „Je niedriger der Status bei Bildung und Einkommen in der Familie ist oder wenn der Faktor Migrationshintergrund hinzukommt, desto tendenziell später besuchen die Kinder eine Kita.“ Nur etwa 35 Prozent der Jungen und Mädchen aus schlechter gestellten Familien besuchten im Alter von zwei Jahren eine Einrichtung.

Die Soziologin betont: „Eine gezielte Förderung in sehr jungem Alter ist nachhaltig, eine langfristig lohnende staatliche Investition. Ein späterer Aufholprozess ist immer viel mühsamer und teurer.“ Und: „Es ist nicht so, dass diese Eltern ihre Kinder nicht in eine Kindertagesstätte schicken wollen, sondern sie haben beim Ringen um die knappen Plätze oft das Nachsehen. Das liegt an Informationsdefiziten und auch an den Auswahlverfahren.“

Soziale Selektivität?

Ähnlich hatte eine Analyse der Friedrich-Ebert-Stiftung jüngst offengelegt, dass es eine stark ausgeprägte Ungleichheit in der Kita-Nutzung nach familiären Merkmalen gebe. Kinder aus armutsgefährdeten Familien, deren Eltern keinen akademischen Hintergrund haben und bei denen zu Hause überwiegend kein Deutsch gesprochen wird, besuchen demnach viel seltener eine Kindertagesstätte als andere Kinder. Die Lücke für Jungen und Mädchen aus benachteiligten Familien sei am größten in ihrem zweiten und dritten Lebensjahr.

Kleinert sagt, Gebühren spielten in dem Zusammenhang praktisch keine Rolle. Familien, die Sozialleistungen erhalten, zahlen seit August 2019 bundesweit keine Kita-Gebühren mehr. In vielen Bundesländern ist die Kita für alle Kinder grundsätzlich, teilweise oder für bestimmte Jahre gebührenfrei. 2023 wurden laut Statistischen Bundesamt 3,93 Millionen Kinder in Tageseinrichtungen betreut. Bei den unter Dreijährigen lag die Betreuungsquote zum Stichtag 1. März 2023 bei rund 36 Prozent, bei den Drei- bis Sechsjährigen bei gut 90 Prozent. Die Bertelsmann Stiftung geht von etwa 430.000 fehlenden Kitaplätzen aus.

Ein Kita-Besuch per se bringt noch keinen Nutzen

Auch Bildungsexpertin Anette Stein von der Bertelsmann Stiftung moniert, dass Kinder aus sozialökonomisch benachteiligten Familien bei der Platzvergabe häufig das Nachsehen hätten. Zugleich stellt sie klar: „Profitieren können Kinder nur dann von einem Kita-Besuch, wenn dort die Qualität stimmt.“

Ob frühkindliche Bildungsarbeit und kompensatorische Leistungen in einer Kindertagesstätte möglich seien, hänge maßgeblich von der Personalausstattung ab. Und da hapere es sehr häufig, es brauche viel mehr und gut qualifizierte Erzieherinnen.

In der Dortmunder Kita erzählt Kadisha (3) derweil von ihrem ersten Karneval: „Ich war das da“, zeigt sie auf ein Prinzessinnen-Bild im Mini-Theater. Dem dreijährigen Milo haben es die Blumen auf den Bildtafeln des Papiertheaters angetan, ein neues Wort hat er gelernt: „Schneeglöckchen“. Eines dürfen die Kinder später im Vorgarten einbuddeln. Kita-Leiterin Caravante sagt: „Wir erleben eine große Dankbarkeit der Eltern, dass ihre Kinder hier so viel mitnehmen können.“