Tübingen. Ein Knochenvergleich zeigt, wie geschickt die Neandertaler zugreifen konnten

    Fingerfertigkeit statt Schraubstockgriff: Neandertaler bewältigten ihren Alltag einer Studie zufolge eher mit Präzisionsgriffen als durch Kraftmeierei. Das schließen deutsche Forscher im Fachblatt „Science Advances“ aus dem Vergleich der Fingerknochen von Neandertalern und modernen Menschen. Anders als lange Zeit angenommen waren die Neandertaler keine plumpen Gestalten, die hauptsächlich auf die Kraft ihrer Hände setzten.

    „Die robuste Anatomie ihrer Handknochen hat bisher zur Annahme geführt, dass Neandertaler ihre täglichen Aufgaben hauptsächlich mit dem Einsatz von Stärke erledigten“, wird Studienleiterin Katerina Harvati von der Universität Tübingen in einer Mitteilung ihrer Hochschule zitiert. Dies stehe in Widerspruch zu archäologischen Funden – etwa gefertigten Knochenwerkzeugen, Seilen und Klebstoffen –, die auf eine große Geschicklichkeit hindeuteten.

    Die Fingerfertigkeit von Neandertalern und modernen Menschen prüften die Forscher nun mit einem neuen Verfahren: Dabei analysierten sie bei fossilen Fingerknochen die Abdrücke der Muskelansätze. „Wir haben in unserer Studie erstmalig erfolgreich die erhaltenen anatomischen Hinweise am Skelettmaterial fossiler Menschenfunde direkt mit den zugehörigen archäologischen Funden verknüpft, um das Verhalten ausgestorbener Frühmenschenformen vollständiger zu verstehen“, sagt Erstautor Alexandros-Fotios Karakostis.

    Die Forscher unterschieden dabei zwischen Kraft- und Präzisionsgriff. Während beim Kraftgriff die ganze Handinnenfläche samt allen Fingern und Daumen zupackt, beruht der Präzisionsgriff vor allem auf dem Halten und Führen von Gegenständen durch die Kuppen von Daumen und Zeigefinger. Verglichen wurden die vermessenen Abdrücke – von sechs Neandertalern und ebenso vielen Steinzeitmenschen – mit denen aus einer Schweizer Friedhofssammlung moderner Menschen, deren Berufe bekannt waren.

    Bei keinem Neandertaler fanden die Forscher Hinweise für den dauerhaften Einsatz von Kraftgriffen, dagegen fanden sie durchaus entsprechende Spuren bei der Hälfte der Steinzeitmenschen. „Wir lehnen daher die gängige Ansicht des tollpatschigen, kraftvollen Neandertalers ab“, folgert Harvati. „Wie moderne Menschen waren Neandertaler kompetente Werkzeugmacher und -nutzer, die bei ihren täglichen Aktivitäten überwiegend präzise Hand- und Fingerbewegungen vollführten.“