Berlin. Intimer als Sex: Die Kulturgeschichte des Knutschens ist reich an Überraschungen

    Heute schon einen Kuss bekommen? Dann ist ja gut. Denn wer wenig küsst, bekommt nicht nur schneller Falten, sondern ist auch sonst oft schlechter drauf. Und für die Liebe sind Küsse ohnehin unentbehrlich – für manche Forscher sogar wichtiger als Sex. „Wenn ein Paar aufhört zu küssen, sind sie innerlich schon dabei, sich zu trennen“, sagt der Berliner Psychologe und Buchautor Wolfgang Krüger. Nicht zu unterschätzen zum Tag des Kusses am heutigen 6. Juli ist neben aller Romantik die Chemie.

    Die erste schriftliche Erwähnung des Küssens finde sich in den indischen Veden, einer Sammlung religiöser Texte von vor rund 3500 Jahren, so Krüger. „Deshalb wird das Küssen als bewusste, sozial-kulturelle Handlung auf diesen Zeitraum datiert.“ Wahrscheinlich küsst die Menschheit aber schon seit Urzeiten. Der Anfang in der Evolutionsgeschichte klingt allerdings eher unromantisch. Küssen diente vor allem der Weitergabe zerkleinerter Nahrung an Kinder, die noch nicht selbst kauen konnten. Mit Schneiden und Kochen fiel diese Funktion weg. „Doch das Küssen als eine sehr intime Form der Begegnung blieb erhalten“, sagt Krüger.

    Anders bei Tieren: „Es gibt zwar Affen und sogar Fische, die sich küssen“, berichtet Krüger. Wissenschaftler seien sich aber unsicher, ob das ein Liebesritual ist oder der gegenseitigen Fütterung dient.

    Was zumindest in Menschen beim Knutschen vor sich geht, haben Wissenschaftler erst in den vergangenen Jahrzehnten erforscht. Die Lust aufs Küssen entsteht demnach durch das Zusammenspiel einer Vielzahl von Hormonen – und hat neben dem Wohlfühleffekt offenbar auch Vorteile für die Gesundheit. Die Pulsfrequenz steigt und der Stoffwechsel verbessert sich. Vielküsser könnten dadurch weniger anfällig für Bluthochdruck und Depressionen sein, hieß es vor 15 Jahren in einer Untersuchung zum deutschen Jahr der Chemie. Der ausgetauschte Speichel soll gut für das Immunsystem und die Zähne sein, weil antimikrobielle Enzyme Karies und Parodontose vorbeugen. Um tiefe Falten brauchen sich eifrige Küsser auch weniger Sorgen zu machen. Sie trainieren alle 34 Gesichtsmuskeln auf einmal und straffen so ihre Haut. Und ein leidenschaftlicher Kuss gibt aus wissenschaftlicher Sicht den gleichen Kick wie 25 Gramm Schokolade – mit einem Vorteil: Er macht nicht dick.

    Und wann ist ein Kuss ein guter Kuss? „Man muss spüren, was dem anderen gefällt“, sagt Krüger. Küsse seien Gespräche der Lippen und der Zunge. „Sex kann distanziert sein – intensive Küsse sind der sinnlichste und intimste körperliche Austausch, den wir kennen.“ Dass Menschen beim Küssen gern die Augen schließen, hält er für nachvollziehbar. Küssen spreche alle fünf Sinne gleichzeitig an – werde ein Sinn ausgeblendet, gebe es mehr Wahrnehmung bei den übrigen.