Berlin.

Ebola, Zika, Keime, gegen die kein Antibiotikum mehr wirkt. Die Herausforderungen, vor denen das globale Gesundheitssystem steht, sind groß. So groß, dass zum ersten Mal auch die Länder der G20 auf dem Gipfel in Hamburg die Gesundheit auf die Agenda gesetzt haben. Das sei ein wichtiger Impuls gewesen, sagt Professor Detlev Ganten im Gespräch. Der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Berliner Charité und Gründer des World Health Summit sieht jedoch ein drängenderes Problem: Medizinischer Fortschritt erreiche die Menschen nicht im ausreichenden Maße. Ganz in der Tradition des Mediziners Rudolf Virchow, der sich im 19. Jahrhundert für die medizinische Grundversorgung der Bevölkerung eingesetzt hat, bringt er Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft an einen Tisch. Denn Gesundheit, so Ganten, sei mehr als Medizin.

Herr Ganten, mit Blick auf die globale Gesundheit – was bereitet Ihnen als Mediziner Sorgen?

Detlev Ganten: Die größte Herausforderung sehe ich in der Auflösung eines weltweiten Dilemmas: Die Wissenschaft macht unglaubliche Fortschritte. Wir haben alle Möglichkeiten, Gesundheit zu erhalten und Krankheiten so zu behandeln, dass die Menschen mit ihnen lange und gut leben können. Aber dieser Fortschritt kommt in der Bevölkerung viel zu wenig an.

Oder nur in wenigen Teilen der Welt.

Natürlich, es gibt privilegierte Regionen: Europa, Teile von Nordamerika und von Asien. Großzügig gerechnet sind das zwei Milliarden Menschen, knapp gerechnet eine Milliarde. Die anderen fünf oder sechs Milliarden profitieren nicht oder nur kaum davon. Das ist eine nicht akzeptable Situation.

Die Themen, über die sich Menschen in Deutschland sorgen und die in der Öffentlichkeit eine Rolle spielen, sind wahrscheinlich andere: die Angst vor Pandemien oder multiresistenten Keimen zum Beispiel.

Das sind ja auch sehr wichtige Themen. Wenn ich eine schwere Infektion habe und es gibt kein wirksames Antibiotikum, dann sterbe ich. Aufgrund so resistenter Keime drohen Zeiten wie vor Entdeckung des Penicillins. Trotzdem sind mir als Arzt die Diskussionen zu medizinisch. Die reichen Länder denken medizinisch krankheitsverhindernd: Wo sind die Bedrohungen? Wie können wir mit unseren Kenntnissen dagegen vorgehen? Wie können wir verhindern, dass uns Ebola-Infizierte aus Afrika gefährlich nahe kommen?

Krankheiten zu verhindern, scheint erst einmal ein guter Ansatz zu sein.

Aber Gesundheit ist viel mehr als Medizin. Im Wesentlichen ist sie auch ein Thema der Kultur: des Verständnisses von Hygiene, der Esskultur, der Bewegungskultur. Wie organisieren wir Mobilität? Wie leben wir in unseren Städten? Leben wir in urbaner oder ländlicher Umgebung? Die intellektuellen Eliten müssten viel mehr politische Verantwortung übernehmen und fragen: Woran liegt das jetzt eigentlich, dass Menschen krank werden?

Und woran liegt es Ihrer Meinung nach?

Der wesentliche Punkt für Gesundheit ist die Bildung. Dabei geht es weniger darum, Körperfunktionen und Biologie besser zu verstehen. Gebildete Menschen positionieren sich selbst in der Gesellschaft, achten auf sich und ihre Umgebung. Das ist schon ein wesentlicher Schritt zur Gesundheitserhaltung und Prävention von Krankheiten. Aber in der Ausbildung von Medizinern – egal ob hier an der Charité, in Harvard, an der Universität Kyoto – kommt dieser weite Blick zu kurz. Meist geht es darum, was wir bei Krankheiten tun können, und nicht darum, was gut für die Gesundheit ist. Das war jetzt auch beim Gipfel der G20 der Fall. Ein solcher Perspektivwechsel von Krankheit zu Gesundheit ist aber dringend nötig.

Die Organisation Ärzte ohne Grenzen hat kritisiert, dass sich die G20-Länder vor allem um Themen kümmern, die sie selbst betreffen. Teilen Sie diese Kritik?

Unbedingt. Die Gewichtungen sind Gewichtungen der Reichen und Mächtigen. Die Vorsorge für Pandemien hängt natürlich damit zusammen, dass Gesellschaften mit großen urbanen Konzen­trationen Angst davor haben, dass so etwas zu ihnen kommt. Wenn hier 20 Menschen an einer Infektionskrankheit sterben, ist das eine Katastrophe. Wenn 20 Menschen in Afrika sterben, ist das, wenn überhaupt, nur eine kurze Meldung wert.

Sie sagen, der weite Blick auf das Thema Gesundheit kommt zu kurz. Weiten wir ihn: Klima war ein wichtiges Gipfelthema. Hängt es auch mit Gesundheit zusammen?

Ja. Klima muss immer im Zusammenhang mit Gesundheit gesehen werden. „Warum interessiert mich Klima?“, können die Deutschen jetzt fragen. Ob es ein bisschen wärmer oder kälter ist? Aber es betrifft alle. Etwa durch die Infektionskrankheiten, die einerseits mit immer häufiger auftretenden Überschwemmungen verbunden sind, aber auch zum Beispiel mit Mücken, die Krankheiten wie Malaria oder Zika übertragen und nun in klimatische Regionen vordringen, in denen sie vorher nicht gelebt haben. Die Herausforderung ist, das Thema näher an die Menschen heranzuholen.

Wie kann das funktionieren?

Indem man praktische Beispiele nennt. Bleiben wir beim Klima. Offenes Feuer: In vielen Teilen von Indien, Südamerika und Afrika sitzt die Großfamilie oft noch um offenes Feuer herum. Es wird gekocht und geredet. Sozial ist das auch wichtig. Aber die Kinder atmen so viel Kohlendioxid ein, wie es keine deutsche Institution für Gesundheitsschutz je zulassen würde. Das wissen die Menschen dort aber nicht. Hinzu kommt: Die Menge an CO2, die durch offenes Feuer in die Luft geht, übersteigt jene, die von Autos produziert wird. Die Verminderung des CO2-Ausstoßes durch offenes Feuer ist also erstens gut für die Gesundheit und verbessert zweitens das Klima. Beim Thema Mobilität gilt das Gleiche. Weniger CO2-Ausstoß durch Fahrradfahren anstelle von Autos führt gleichzeitig zu verbesserter Gesundheit des Fahrers. Und so gibt es eine Menge Co-Benefits.

Wo kommt die Politik ins Spiel?

Politik macht die Regeln, wie wir leben. Wenn Gesundheit gefährdet ist, ist damit nicht nur der Einzelne gefährdet, sondern ganze Regionen in ihrer Sicherheit, in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung, in ihrem gesamten gesellschaftlichen System. Gesundheit ist ein sehr komplexes Thema. Umso mehr müssen wir versuchen, die Menschen mit besonderen Kenntnissen an einen Tisch zu bekommen. Ein Klimawissenschaftler kennt Klima besser als Medizin. Ein Mediziner kennt Biologie besser als Klima. Ein Soziologe wiederum sagt Ihnen, Gesundheit sei eine Frage der sozialen Bedingungen, unter denen wir leben. Diese Verbindung herzustellen, ist die Herausforderung der Zukunft in einer komplexen globalen Welt und damit der Politik. Deswegen ist es auch so wichtig, dass sich die G20 das Thema Gesundheit auf die Agenda geschrieben hat und es in internationalen Foren wie dem World Health Summit hier in Berlin über inhaltliche, fachliche und politische Grenzen hinweg diskutiert wird.

Aber welchen Wert haben Beschlüsse, die nicht verbindlich sind?

Sie geben einen wichtigen Impuls. Wenn die Trumps, Macrons, Erdogans und Merkels mit ihren unterschiedlichen Interessen einen Abschlussbericht unterschreiben, dann gewinnt das Thema an Aufmerksamkeit. Wir können und müssen den Schwung dafür nutzen, daraus Größeres und Langfristigeres zu machen. Und Deutschland kann viel dazu beitragen. Wir haben mit Rudolf Virchow einen großartigen Vorreiter zum Thema Public Health. Diese Tradition sollten wir fortsetzen.