Berlin. Betroffene leiden unter Arthrose oder Depressionen – Spezialisten schließen Versorgungslücke

Anfang der 60er-Jahre sorgt das Beruhigungsmittel Contergan für den bisher größten Arzneimittelskandal in Deutschland. Der darin enthaltene Wirkstoff Thalidomid kann den Embryo schwer schädigen, wenn Schwangere ihn einnehmen. Contergan wird seit 1957 gegen Übelkeit in der frühen Schwangerschaftsphase verschrieben, bis Kinder vermehrt mit schweren Fehlbildungen an Organen und Gliedmaßen geboren werden. Weltweit kommen 5000 bis 10.000 geschädigte Neugeborene auf die Welt, auch gibt es viele Totgeburten. 1961 wird das Medikament verboten.

Menschen mit verkürzten Armen oder Beinen müssen lernen, mit ihren Zähnen zu greifen oder mit Füßen zu schreiben. Die Contergan-Betroffenen in Deutschland, Schätzungen zufolge sind es 2400, haben dies über Jahre hinweg perfektioniert. Aber es verursacht bei ihnen – je älter sie werden – gesundheitliche Probleme wie Arthrose mit chronischen Schmerzen.

„Die meisten Beschwerden macht der Schulter-Nacken-Bereich, viele haben auch chronische Kreuzschmerzen“, sagt Prof. Klaus M. Peters, Chefarzt der Orthopädie der Dr.-Becker- Rhein-Sieg-Klinik in Nümbrecht bei Köln. Seit mehr als 15 Jahren kümmert er sich in einer wöchentlichen Sprechstunde um die besonderen Bedürfnisse dieser Patienten. Udo Herterich, Vorsitzender des Interessensverbandes Contergan-Geschädigter, hatte ihn darauf aufmerksam gemacht, dass es kaum Experten für Langzeitschäden Betroffener gibt: „Die Ärzte haben uns schlicht vergessen“, so Herterich.

Dabei sind die Folgen von Contergan im Laufe der Jahre beträchtlich. Schließlich ist der Körper nicht darauf ausgerichtet, dass jemand über Jahre hinweg mit den Füßen isst, trinkt oder schreibt. Das belastet die Gelenke. Eine fehlgebildete Hüfte verschleißt durch die falsche Belastung schneller als bei anderen Menschen. Immer mehr Betroffene erleiden Herterich zufolge zudem einen Herzinfarkt oder Schlaganfall infolge angeborener Gefäßschäden.

Vergleichbares Zentrum an der Schön-Klinik Eilbek

Klaus M. Peters entwickelte sich durch den Kontakt zum Interessenverband zum Spezialisten: In Zusammenarbeit mit der Uniklinik Köln untersuchte er über drei Jahre hinweg in einer Studie die Folgeschäden – und stellte fest, dass das Gesundheitssystem nicht auf eine bedarfsgerechte Behandlung ausgerichtet ist. „Vor allem psychosomatische Störungen wie Depressionen infolge der Beeinträchtigungen durch Contergan sind weit verbreitet“, sagt Peters. Um die Versorgungslücke zu schließen, hat er jetzt die ärztliche Leitung des ersten Medizinischen Zen­trums für Erwachsene mit Mehrfachbehinderungen (MZEB) speziell für Contergan-Folgeschäden übernommen.

Ein vergleichbares Zentrum gibt es auch in der privaten Hamburger Schön-Klinik Eilbek, finanziert von einer Stiftung und organisiert von einem Team um den Anästhesisten und Schmerztherapeuten Rudolf Beyer: Die interdisziplinäre Contergan-Sprechstunde mit Schmerztherapeuten, Orthopäden, Internisten, Neurologen und Psychologen existiert seit 2014. Dort arbeitet der Orthopäde Mathias Weber unter besonderen Bedingungen: „Wir wissen, wie ungern Contergan-Geschädigte zum Arzt gehen oder Medikamente nehmen, weil viele von ihnen durch die langen Krankenhausaufenthalte und die Erfahrungen in ihrer Jugend traumatisiert sind.“

Mithilfe von Fragebögen ermitteln die Ärzte in Nümbrecht ebenso wie in Hamburg den Bedarf Contergan-geschädigter Patienten, bevor diese in die Sprechstunde oder ins Zentrum kommen. Anschließend werden sie von Experten betreut, die sich über mehrere Tage Zeit nehmen, um einen individuellen Behandlungsplan zu entwickeln.

In Nümbrecht gehören neben zwei Ärzten auch Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Masseure und Psychologen zum Spezialistenteam. „Jetzt können wir auch Heil- und Hilfsmittel wie physikalische Therapien zur Schmerzbewältigung oder Rollstühle verordnen und nicht nur Vorschläge hierfür machen“, sagt Peters. Wenn notwendig, werden die geschädigten Hüft- und Kniegelenke der Betroffenen von einem geschulten Team in Bergisch-Gladbach operiert. Das Wissen, das er und sein Team sammeln, soll auch anderen Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen zugutekommen.

Natürlich haben Betroffene auch immer wieder Fragen an die spezialisierten Ärzte. Weil sich diese aber nicht für jedes Problem auf den Weg machen können, experimentieren die Mediziner der Schön-Klinik derzeit mit einer digitalen Sprechstunde. Diese soll schnelle Beratung via Bildschirm möglich machen.

Der Interessensverband Contergan-Geschädigter hingegen begleitet Patienten im Alltag. „Das bedeutet, dass Menschen, die das gleiche Problem haben – zum Beispiel kurze Arme –, andere mit dieser Einschränkung beraten. Denn nur sie kennen sich ja bestens mit den Schwierigkeiten aus“, sagt der Vorsitzende Udo Herterich.

Unterstützung können auch einfache Hilfsmittel geben. Herterich: „Es gibt Anziehstäbe, mit denen man sich die Hose hochziehen kann. Und ein Ganzkörperfön ist ein Segen, weil man kein Handtuch braucht.“ Der Verband hilft aber auch gezielt dabei, die Wohnung oder das Haus barrierefrei umzubauen.