Berlin. Neuer AOK-Report kritisiert Gabe von Medikamenten gegen Wahnvorstellungen. Die Behandlung berge Risiken für die Gesundheit

Fünf Medikamente und mehr – für die meisten Pflegebedürftigen in Deutschland ist das die tägliche Dosis. Darunter auch Präparate, die gegen Ängste und Wahnvorstellungen wirken, sogenannte Neuroleptika. 43 Prozent der Demenzkranken in deutschen Pflegeheimen bekommen ein solches Medikament über eine längere Zeit – obwohl die Wirkstoffe häufig dafür nicht zugelassen sind. Das geht aus dem am Mittwoch vorgestellten Pflegereport 2017 der Krankenkasse AOK hervor.

Für die Pharmakologin Petra Thürmann von der Universität Witten/Herdecke ein bedenkliches Ergebnis. Sie hat, gefördert vom Bundesgesundheitsministerium, knapp 850 Heimbewohner untersucht. Ihr Fazit: „Der breite und dauerhafte Neuroleptika-Einsatz bei Pflegeheimbewohnern mit Demenz verstößt gegen die Leitlinien.“ Die Ergebnisse sind Teil des Pflegereports.

In der Leitlinie „Demenzen“ (http://bit.ly/2oHOCdA) ist unter anderem formuliert, dass sich für bestimmte Formen der Demenz wie Parkinson-Demenz die Gabe von Neuroleptika verbietet. Thürmann bestätigt: Einerseits seien nur ganz wenige Wirkstoffe zur Behandlung von Wahnvorstellungen bei Demenz zugelassen. Und selbst diese dann auch nur für eine Therapiedauer von maximal sechs Wochen. „Der Nutzen von Neuroleptika ist nicht besonders, aber dafür kaufen wir uns relativ viele Risiken ein“, sagte Thürmann, die dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR) angehört. Die geistige Leistungsfähigkeit könne sich verschlechtern, das Sturzrisiko steige und die Wahrscheinlichkeit einer Thrombose oder eines Schlaganfalls erhöhe sich.

Auch das Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP) warnt vor dem Einsatz von dämpfenden Psychopharmaka bei Demenzkranken. Die Folgen könnten unerwünschte Nebenwirkungen, wie etwa starke Müdigkeit bis hin zur Benommenheit und zusätzliche Verwirrtheit sein. „Das kann wiederum zu Essensverweigerung oder folgenschweren Stürzen führen“, erklärt der ZQP-Vorsitzende Ralf Suhr. Angehörige sollten beim Auftreten solcher Symptome bei Pflegekräften und Ärzten nachhaken und sich den Medikationsplan erläutern lassen. Besonders nachfragen sollten sie beim Einsatz von Neuroleptika.

Neuroleptika sind Psychopharmaka, die Halluzinationen und Wahnvorstellungen entgegenwirken. Häufig haben sie auch eine beruhigende Wirkung. Sie greifen in den Hirnstoffwechsel ein indem sie Rezeptoren für den antriebssteigernden Botenstoff Dopamin blockieren – er kann somit keine Wirkung entfalten. Besonders bei Schizophrenie werden sie verschrieben. Bei Demenzen werden Neuroleptika gegen das sogenannte „herausfordernde Verhalten“ eingesetzt. Die Betroffenen haben Angst, sind aggressiv, schreien oder wandern umher.

Dass es Alternativen zum Einsatz von Medikamenten gibt, zeigt der Blick in andere Länder. In Schweden steht bei nur zwölf Prozent der dementen Heimbewohner ein Neuroleptikum auf dem Medikationsplan. In Finnland bei 30 Prozent. Das ist deutlich weniger als die über 40 Prozent in deutschen Pflegeheimen. Alternative nichtmedikamentöse Verfahren gibt es zwar auch in deutschen Einrichtungen, doch mehr als die Hälfte der 2500 Pflegekräfte gab in einer AOK-Befragung an, dass Zeitdruck die Umsetzung teilweise beeinträchtige oder verhindere.

Hegten Angehörige den Verdacht, dass Medikamente ohne Wissen der Heimbewohner verabreicht werden, sei es sinnvoll, sich an den betreuenden Arzt zu wenden, rät Hedwig François-Kettner vom Aktionsbündnis Patientensicherheit. „Wenn der Pflegebewohner seinen Arzt nicht gewechselt hat, und es keinen zuständigen Heimarzt gibt, ist das der Hausarzt.“ In der Regel könnten Medikamente nicht direkt vom Heim verordnet werden. Das Zentrum für Qualität in der Pflege weist darauf hin, dass gesetzlich Versicherte, die mindestens drei Medikamente über vier Wochen zeitgleich einnehmen, jetzt einen Anspruch auf einen Medikationsplan haben. Dieser werde vom Arzt erstellt und müsse Angaben wie Wirkstoff, Stärke und Dosierung enthalten.