Freetown . Bürgerkriege spalten Gesellschaften über Generationen. Eine Studie zeigt: Aussöhnungsprogramme können helfen, doch für Opfer sind sie eine Belastung

    Noch viele Jahre nach einem Bürgerkrieg profitiert die Gesellschaft eines Landes von Programmen zur Aussöhnung. Während derartige Projekte den sozialen Zusammenhalt in Kommunen deutlich bessern, reißt die Beschäftigung mit erlittenen Gräueln bei vielen Menschen seelische Wunden wieder auf. Das zeigt eine Studie aus Sierra Leone, die die Folgen eines Aussöhnungsprogrammes ausgiebig analysierte. Angesichts der Vielzahl von Bürgerkriegen seien solche Projekte extrem wichtig, die Belastung traumatisierter Menschen müsse jedoch abgefedert werden, schreibt das Forscherteam um Oeindrila Dube von der New York University im Fachblatt „Science“.

    50.000 Menschen getötet, Tausende verstümmelt

    Bosnien-Herzegowina, Ruanda oder Syrien: Bürgerkriege können Gesellschaften über Generationen spalten. Die meisten heutigen Kriege seien Bürgerkriege, schreiben die Forscher um Dube. Nach Ende der Konflikte seien Wahrheits- und Aussöhnungsprozesse weltweit ein gängiger Ansatz, um den Wiederaufbau zu fördern.

    Die Folgen eines solchen Programms untersuchte das Team in Sierra Leone. Bei dem Bürgerkrieg von 1991 bis 2002 wurden dort mehr als 50.000 Menschen getötet, Tausende verstümmelt, Hunderttausende Frauen vergewaltigt, mehr als die Hälfte der Bevölkerung vertrieben. Oft lebten Täter und Opfer im gleichen Ort. Zwar richtete die Regierung nach dem Krieg eine Versöhnungskommission ein. Die Treffen beschränkten sich aber auf die Distrikthauptstädte und erreichten nur wenige Betroffene.

    Die Forscher analysierten nun ein Projekt der Nichtregierungsorganisation Fambul Tok (Familiengespräch). Das Programm lief 2011 bis 2012, also etwa ein Jahrzehnt nach Ende des Krieges. Bei den zweitägigen Foren, die von rituellen Zeremonien begleitet wurden und jeweils etwa 200 Dollar (etwa 175 Euro) kosteten, berichteten Opfer über erlittene Gräuel, während Täter ihre Verbrechen einräumten und um Vergebung baten.

    Die Wissenschaftler verglichen Menschen aus 100 zufällig ausgewählten Siedlungen, in denen solche Treffen stattgefunden hatten, mit denen von 100 anderen Orten aus den gleichen Regionen. Dabei befragten sie neun und 31 Monate später etwa zehn bis zwölf Personen pro Dorf. Die insgesamt fast 2400 Menschen gaben den Interviewern Auskunft, zum Beispiel zu ihrer seelischen Gesundheit, ihrer Haltung zu ihren damaligen Kontrahenten und zur sozialen Verbundenheit.

    Gemeinschaften profitieren von den Treffen, Opfer vergaben den Tätern

    Die Analyse zeigt, dass die Gemeinschaften von den Treffen eindeutig profitierten: Die Opfer waren eher bereit, den Tätern zu vergeben, das Vertrauen in die damaligen Gegner stieg um gut 22 Prozent, das Vertrauen in neu zugewanderte Gruppen um knapp 7 Prozent. Freundschaften und soziale Kontakte zwischen Vertretern verschiedener Gruppen nahmen zu, und mehr Menschen unterstützen gemeinsame Maßnahmen wie den Bau von Schulen oder Krankenhäusern.

    Allerdings zahlten traumatisierte Menschen dafür einen hohen Preis: Bei vielen von ihnen wurden alte seelische Wunden aufgerissen. Die Konfrontation mit den erlittenen Gräueln verschlimmerte Ängste, Traumata und Depression. In den Orten, die an dem Programm teilgenommen hatten, litten deutlich mehr Menschen an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) als in den anderen Dörfern.

    Versöhnungsprogramme sollten direkt nach einem Krieg ansetzen

    Die positiven wie auch negativen Auswirkungen waren noch 31 Monate nach den Treffen vorhanden. „Unsere Resultate zeigen den langen Schatten des Krieges“, schreiben die Forscher. „Insgesamt belegen die Ergebnisse, dass der mit der Versöhnung verbundene Nutzen der sozialen Heilung einherging mit deutlichen Nachteilen für die Psyche von Individuen.“ Dies könne jedoch abgemildert werden, etwa indem man die Opfer psychisch unterstütze oder indem man solche Treffen direkt nach einem Krieg abhalte – und nicht ein Jahrzehnt später. „Diese erste derartige Studie liefert wertvolle Hinweise zu einem Verfahren, das in der ganzen Welt eingesetzt wird, um von Krieg zerrissene Gemeinschaften zu heilen“, sagt Annie Duflo von der an der Studie beteiligten Organisation Innovations for Poverty Action. „Politikmacher sollten Versöhnungsprozesse so gestalten, dass die negativen psychischen Kosten verringert werden, während der positive soziale Nutzen erhalten bleibt.“

    In einem „Science“-Kommentar schreiben Katherine Casey von der Stanford University und Rachel Glennerster vom Massachusetts Institute of Technology (MIT), seit Ende des Zweiten Weltkriegs habe es 259 bewaffnete Konflikte in 159 Regionen gegeben. Zu Beginn des Kriegs in Sierra Leone habe in etwa jedem vierten Land der Erde ein Bürgerkrieg geherrscht. Die negativen Auswirkungen von Aussöhnungszeremonien für viele Opfer seien Grund zur Sorge.

    Diese hingen aber auch damit zusammen, dass arme Länder kaum Geld für die psychische Gesundheit ausgeben. „Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation deuten darauf hin, dass weniger als 1 Prozent der mehr als 400.000 Menschen, die in Sierra Leone an psychischen Problemen leiden, eine Therapie bekamen“, betonen sie. „Das sollte für uns eine Aufforderung zum Handeln sein.“