Berlin. Der Körper möchte Winterschlaf halten, doch der moderne Alltag lässt das nicht zu. Das raten Wissenschaftler bei trüber Trägheit in der kalten Jahreszeit

Da sind sie wieder, die dunklen Tage, in denen es unterwegs ins Büro dunkel ist und auf dem Weg heim auch schon wieder. So mancher fühlt sich dann schlapp und unmotiviert – von „Winterblues“ ist oft die Rede. „Rund ein Viertel der Menschen verspürt solche saisonalen Schwankungen“, sagt Dieter Kunz, Chefarzt an der Klinik für Schlaf- und Chronomedizin des Berliner St. Hedwig-Krankenhauses. Am schlimmsten sei die Verstimmung meist im Februar oder März, also weit nach der Wintersonnenwende.

„Eine Ursache dafür ist wahrscheinlich die Trägheit der inneren Uhr“, erklärt Kunz. Hinzu komme ein Zermürbungsfaktor. Die Trübsinnigkeit gehe auf ein Konglomerat verschiedener Effekte im Gehirn zurück, das bei Weitem noch nicht im Detail verstanden sei. Klar statistisch belegt sind demnach allerdings die Folgen – wie eine erhöhte Trennungsrate ausgerechnet in diesen Monaten, in denen das Frühjahr doch schon bevorsteht.

Im Winter lethargischer und trübsinniger zu sein und öfter mal schlapp auf der Couch zu hängen, sei ein ganz natürlicher Prozess, betont Thomas Kantermann, Chronobiologe an der Universität Groningen in den Niederlanden und der Ludwig-Maximilians-Universität München. „Das gibt es besonders ausgeprägt dort, wo es Jahreszeitenwechsel gibt.“ Einst sei es sinnvoll gewesen, in den kalten Monaten in einen Energiesparmodus zu wechseln und mit seinen Nächsten in möglichst warmer Umgebung auszuharren, um Nahrungsmangel und Kälte im Winter zu überstehen. „Erst seit etwa 100 Jahren nehmen wir uns da raus und machen die Heizung an, wenn es uns zu kalt ist, wodurch wichtige saisonale Signale stark verfälscht werden.“

So schnell aber vermögen sich die uralten Mechanismen nicht anzupassen. Das zeigt auch ein weiteres Phänomen: der Hang, sich Winterspeck anzufuttern. „Plätzchen werden gebacken, weil zum Winter hin der körperliche Bedarf nach Kohlehydraten und Fett steigt. Neben kulturellen Einflüssen variiert unser Ernährungsverhalten auch mit den saisonalen Anforderungen“, erklärt Kantermann. „Kultur und Biologie ergänzen sich da.“

Generell ist diese Winterlethargie nicht mit einer Depression gleichzusetzen. „Der eine ignoriert es, der andere trägt es stärker nach außen, pathologisch aber wird es nur dann, wenn ich meinen Alltag nicht mehr bewältigen kann“, erklärt Kantermann. Dann allerdings sei unbedingt dazu zu raten, sich Hilfe zu suchen.

Zum großen Teil geht der Winterblues darauf zurück, dass es weniger Stunden am Tag und insgesamt seltener richtig hell ist. „Ob die Temperatur auch ein Faktor ist, wissen wir noch nicht“, sagt Kunz. Bekannt ist demnach aber zum Beispiel, dass Saunieren gegen Depressionen hilft. Denkbar sei ein Zusammenhang über das Immunsystem, das dabei gestärkt wird. Darauf weise die Erkenntnis hin, dass das Depressionsrisiko größer ist, wenn bestimmte Entzündungsparameter im Körper erhöht sind.

Hinzu kommt der oft unterschätzte Faktor Schlaf. „Man schläft anders im Winter“, sagt Kunz. Eine Untersuchung seines Teams habe gezeigt, dass Berufstätige in Berlin in den Wintermonaten im Mittel eine Stunde länger schlafen als im Sommer. „Das hat mich umgehauen.“ Der genaue Mechanismus dahinter sei noch unklar.

Smartphones im Bett unterbrechen einen empfindlichen Rhythmus

Der moderne Lifestyle suggeriere auch im Winter, dass man sich seine Tage möglichst vollstopfen müsse mit Aktivitäten, sagt Kantermann. Geräte wie das Smartphone würden häufig abends im Bett und morgens direkt wieder genutzt. Ihr Blaulichtanteil aber wirke über die Retina auf die innere Uhr. „Für sie bedeutet solches Licht automatisch: Es ist hell, also ist Tag.“ So würden Programme im Körper unterbrochen, „die wir besser nicht unterbrechen sollten“. Bei Erwachsenen sei Schlafmangel eine Ursache für Depressionen, Kinder würden eher hyperaktiv.

„Wir haben uns eine Welt geschaffen, die erheblich mit unserem natürlichen Schlafbedürfnis kollidiert“, sagt Kantermann. „Die Krux ist, dass wir den chronischen Mangel nicht akut bemerken.“ Evolutionär sei es sinnvoll gewesen, dass zu wenig Schlaf nicht sofort zu Symptomen führt. „Etwa, wenn die Jagd auf ein Mammut mal eine Woche gedauert hat.“ Danach aber habe es Erholungszeiten gegeben, die heute fehlten. Über Sensoren dafür verfüge der Körper nicht. „Wir halten das sehr lange durch, aber das heißt nicht, dass es keine Konsequenzen gibt.“

Nach Ansicht Kantermanns kann über die Schlafmechanismen auch die Zeitumstellung den Winterblues fördern. „Die Umstellung auf die Sommerzeit bedeutet einen zusätzlichen Schlafmangel, den manche wahrscheinlich bis in die kalte Jahreszeit tragen“, ist er überzeugt. Er ist Mitinitiator des Projekts „Chrono-City Bad Kissingen“: Die knapp 20.000 Einwohner sollen dort künftig möglichst nach der eigenen inneren Uhr leben und achtsamer mit ihrem Schlaf umgehen. Keine einfach umzusetzende Idee: „Es ist ja alles miteinander verzahnt: Schule, Arbeitszeiten, Nahverkehr“.

Ob die Bewohner Bad Kissingens in einigen Jahren weniger über winterliche Verstimmungen klagen, wird sich zeigen. Aktiv gegen Winterblues vorgehen können Menschen aber auch andernorts – nicht nur, indem sie früh ins Bett krabbeln und sämtliche Displaygeräte daraus verbannen. „Grundsätzlich hilft Tageslicht“, sagt Kunz. Drinnen könne am Tag eine Tageslichtlampe nützlich sein. „Unser Taktgeber, der Sympathikus, hängt von der Helligkeit ab“, betont auch der Münsteraner Sportmediziner Klaus Völker. Das sympathische Nervensystems ist ein Teil des vegetativen und wirkt stimulierend zum Beispiel auf Herztätigkeit, Blutdruck und Stoffwechsel. „Wenn es dunkler wird, geht die Sympathikusaktivität runter.“ Sport stimuliere den wintermüden Sympathikus. „Die kalte Temperatur und das Licht draußen sind zusätzliche Reize.“ Physiologische Grenzen gebe es dabei aber durchaus. „Ab minus 20 Grad sollte man auf Sport verzichten.“ Bis dahin gelinge es dem Körper, die Atemluft ausreichend anzufeuchten und auf Temperatur zu bringen, bevor sie die empfindlichen Lungenbläschen erreiche.

Auf die Winterlethargie folgt die Frühjahrsmüdigkeit

Eine weitere Maßnahme ist sehr erfolgreich, leider aber nur für wenige umsetzbar: „Wer kann, sollte in wärmere Gefilde fliehen“, rät Kantermann. „Die schönste Lösung ist, im Winter in die Sonne fliegen zu können“, sagt auch Kunz. Einige Wochen Urlaub im Süden dürften zudem den nächsten Übergang erleichtern – auf die Winterlethargie folgt bekanntermaßen die Frühjahrsmüdigkeit. Ihre Ursache sei, dass der Körper ein Weilchen brauche, bis er vom Energiesparmodus auf volle Aktivität umgestellt habe, erklärt Kunz. „Da knackt’s erst mal im Gebälk.“