Essen. MIH ist ein Entwicklungsdefekt im Gebiss, im Schnitt ist jedes zehnte Kind betroffen. Die Folgen lassen sich gut behandeln

Da hat das Kind immer brav die Milchzähne geputzt, lächelt auf den Familienfotos mit strahlend weißen Beißerchen – doch kaum brechen die bleibenden Zähne durch, zeigen sich unschöne gelblich-bräunliche Verfärbungen, der Zahnschmelz ist porös und bröckelt. Die Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation, kurz MIH, ist das neue Schreckgespenst in den Zahnarztpraxen. Deutschlandweit sind durchschnittlich zehn Prozent aller Grundschulkinder betroffen, so die Zahnärztekammer Nordrhein, regionale Spitzen liegen bei 14 Prozent. Tendenz steigend.

Was passiert bei MIH?

„Bei der Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation handelt es sich um einen entwicklungsbedingten Defekt des Zahnschmelzes“, sagt Dr. Preeti Singh-Hüsgen, Oberärztin der Poliklinik für Zahnerhaltung an der Uniklinik Düsseldorf. Mit Molaren sind die hinteren Backenzähne gemeint, von denen in der Regel der erste, manchmal auch der zweite Zahn betroffen ist, Inzisiven heißen die Schneidezähne.

Bereits zwischen dem achten Schwangerschaftsmonat und dem vierten Lebensjahr entwickeln sich im Kiefer des Kindes die bleibenden Zähne: Proteine werden aufgebaut und bilden ein Gerüst, um das sich der Zahnschmelz kristallisieren kann. Ist dabei etwas schiefgelaufen, wird das jedoch erst im Grundschulalter sichtbar, wenn die Milchzähne ausfallen und die bleibenden Zähne ihren Platz einnehmen. „Verfahren, um die Krankheit im Vorfeld zu diagnostizieren, gibt es nicht“, sagt Preeti Singh-Hüsgen.

Welche Symptome treten auf?
Das Krankheitsbild ist nicht immer gleich: So können unterschiedlich viele Molaren und Inzisiven betroffen sein, manchmal sind nur die Backen- und nicht die Schneidezähne defekt, auch variiert die Ausprägung der Mindermineralisation. In einzelnen Fällen werden zusätzlich andere Zähne in Mitleidenschaft gezogen.

Als Erstes fallen meist ungewöhnliche Flecken auf den Frontschneidezähnen oder gelblich-bräunliche Verfärbungen auf den Backenzahnoberflächen auf. Der Grad der Verfärbung lässt dabei auf die Intensität der Erkrankung schließen. Die defekten Zähne sind allerdings nicht nur optisch auffällig: „Der befallene Schmelz unterscheidet sich auch durch geringere Härte, niedrigeren Mineralgehalt und erhöhte Porosität“, schreibt Prof. Dr. Katrin Bekes, Generalsekretärin der Deutschen Gesellschaft für Kinderzahnheilkunde, in einem Fachartikel. Die Folge: Die mechanische Belastbarkeit der Zähne ist deutlich reduziert, es zeigen sich Absplitterungen unterschiedlich großen Ausmaßes. Betroffene Kinder klagen oft über Kälte- und Wärmeempfindlichkeit der Zähne.

Doch nicht jeder Zahnarzt kennt das Krankheitsbild: „Karies betrifft 70 Prozent der Bevölkerung, das hat jeder schon mal gesehen“, sagt Preeti Singh-Hüsgen. Doch MIH, das erstmals in den 80er-Jahren unter anderem als „cheese molars“ beschrieben wurde, sei manchen Ärzten noch nie begegnet. Immerhin werde es heute wesentlich häufiger erkannt als noch vor einigen Jahren.

Wodurch wird die Krankheit ausgelöst?
Weltweit suchen Wissenschaftler nach dem Schlüssel zum Problem MIH. Die Liste anerkannter Theorien ist lang, doch bisher gilt keine einzige als gesichert. Viele Experten gehen mittlerweile von multifaktoriellen Ursachen aus, also einem Zusammenwirken mehrerer schädlicher Einflüsse. Diskutiert werden in diesem Zusammenhang Probleme im letzten Teil der Schwangerschaft und Frühgeburten, ein erhöhter Dioxingehalt oder PCB in der Muttermilch, aber auch chronische Lungenerkrankungen, Infektionen, die eine frühe Antibiotikagabe notwendig machen, oder Störungen im Mineralhaushalt, bedingt durch Mangelernährung oder bestimmte Erkrankungen. So schreibt Katrin Bekes, dass Kinder mit MIH in Untersuchungen „signifikant häufiger krank“ waren und „eine signifikant größere Vielfalt an Erkrankungen durchgemacht“ hätten als Kinder einer Kontrollgruppe.

Und dann ist da noch das umstrittene Bisphenol A – der berühmte Weichmacher, der seit 2011 in der EU nicht mehr in Babytrinkflaschen enthalten sein darf. Dieser Stoff könnte die Schmelzentwicklung auf verhängnisvolle Weise stören, vermuten einige Forscher.

Bei aller Unklarheit ist man sich jedoch in einem Punkt einig: Mangelnde Mundhygiene ist kein Auslöser von MIH. Auch einen genetischen Defekt schließen die meisten Experten aus. „Es gibt zwar genetische Erkrankungen, die einen ähnlichen Schmelzentwicklungsdefekt zeigen, aber bei MIH spielen die Gene höchstwahrscheinlich keine Rolle“, sagt Preeti Singh-Hüsgen.

Wie wird behandelt?

Heilen lässt sich MIH nicht – doch die Medizin kann einiges tun, um den Zustand der Zähne zu erhalten. „Wichtig ist insbesondere eine gute Kariesprophylaxe“, so Preeti Singh-Hüsgen. Denn MIH macht die Zähne deutlich anfälliger für Karies. Um die Schmerzempfindlichkeit zu reduzieren, können spezielle Lacke aufgetragen werden, die Verfärbungen lassen sich mit Kunststoffversiegelungen optisch abmildern.

Sehr brüchige Zähne werden mit Füllungen oder Kronen versehen, um sie zu stabilisieren. „Wir kontrollieren daher regelmäßig den Zustand der Zähne – verschlechtert er sich nicht, kann auf die Überkronung verzichtet werden.“ Denn das Krankheitsbild müsse nicht zwingend schlimmer werden, so die Ärztin.

„Viele Eltern haben Angst, gerade wenn sie versuchen, sich im Internet zu informieren“, dabei sei die letzte Maßnahme – die Entfernung des betroffenen Zahnes mit anschließender kieferorthopädischer Lückenschlussbehandlung – nur in den wenigsten Fällen notwendig: „Die meisten Zähne können trotz allem gerettet werden.“