Berlin . Asperger-Autismus bleibt häufig unerkannt. Viele Betroffene ecken mit ihrem Verhalten an und leiden unter Mobbing oder Depressionen.

Etwa ein Prozent aller Menschen ist von einer Autismusstörung betroffen. Das sind wesentlich mehr, als Experten lange Zeit angenommen haben. Speziell das Asperger-Syndrom, eine milde Form des Autismus, hat es dank der Fernsehserie „The Big Bang Theorie“ oder dem Erfolg der britischen Sängerin Susan Boyle zu Popularität gebracht – zu einer zweifelhaften, wie Experten meinen.

„Viele haben ein absolut verzerrtes Bild von dieser Erkrankung“, sagt die Psychologin Dr. Nicole Bruning, Leiterin der Ambulanz für Autismus-Spek­trum-Störungen an der Uniklinik Köln. „Sie halten alle Asperger-Autisten für abgedrehte Individualisten mit besonderen Begabungen.“ Die gibt es zwar, doch sie sind nur ein Teil der Wirklichkeit. Denn unter den Patienten seien viele, die „gar nicht unmittelbar als Autisten auffallen“. Die aber trotzdem zu kämpfen haben mit einer Welt, in der Menschen Dinge sagen, die sie nicht meinen, in der unangenehm auffällt, wer soziale Konventionen außer Acht lässt und dem Chef zum Beispiel offen sagt, dass er Mundgeruch hat.

Vielen Asperger-Autisten ist eine Direktheit zu eigen, die „einige Menschen als Distanzlosigkeit empfinden“, so Nicole Bruning. Sich höflich zu verstellen, verlangt ihnen auch im Erwachsenenalter mühsame Übung ab. Umgekehrt erkennen sie nicht, wenn sich Menschen verstellen oder lügen. „Das liegt daran, dass Menschen mit Asperger-Syndrom die Welt anders wahrnehmen“, sagt Psychologe Dr. Tobias Leppert vom Autismus Institut Lübeck.

Kinder mit Asperger-Autismus können böse Absichten nicht durchschauen

Kennzeichnend für Asperger seien Schwächen in drei kognitiven Bereichen. Einer dieser Bereiche, die „Theory of Mind“, bezeichnet die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und deren Gefühle nachzuvollziehen. „Was gesunde Kinder ganz nebenbei über Mimik, Gestik, Haltung oder Tonfall lernen, kommt bei Asperger-Kindern nicht an“, sagt Tobias Leppert. Ihr Gespür für die Feinheiten der Interaktion mit anderen ist schwächer ausgeprägt. Zwar eignen sich die meisten später ein theoretisches Wissen darüber an, haben aber oft Schwierigkeiten, dieses situativ zu nutzen. Dass sie oft keinen Blickkontakt halten können oder sich im Gespräch auf eine bestimmte Partie des Gesichtes fokussieren, mache es nicht leichter, sagt Nicole Bruning.

So würden Kinder und Jugendliche mit Asperger leicht zu Mobbing-Opfern, weil sie böse Absichten nicht durchschauen können – obwohl sie meist nicht weniger intelligent sind als Gleichaltrige, manchmal sogar auf bestimmten Gebieten hochbegabt, etwa über einen ausgeprägten Sprachschatz verfügen.

Defizite machen sich auch im Bereich der „zentralen Kohärenz“ bemerkbar. Diese betrifft die Erfassung von Sinnzusammenhängen. Gesunde Menschen nehmen ihre Umwelt als Einheit wahr, dadurch wird sie überschaubar. Ein Asperger-Autist sieht zuerst die Details und kann vor lauter Teilen das große Ganze oft nicht entschlüsseln. Diese fragmentarische Art der Wahrnehmung muss jedoch nicht nur als „Mangel“ in Erscheinung treten, denn sie korrespondiert oft mit einem erstaunlichen Gedächtnis und einem scharfen Blick.

Die sensorischen Besonderheiten sind in der Regel nicht auf die visuelle Wahrnehmung beschränkt. Sie betreffen mitunter das Gehör, den Geruchssinn und die Empfindlichkeit für Berührungen. Deshalb ertragen viele Asperger-Patienten Körperkontakt nur, wenn sie ihn selbst bestimmen können – eine Umarmung kann für sie zur Folter werden.

Der dritte Bereich betrifft die Organisation und Handlungsplanung, die sogenannten „exekutiven Funktionen“: Sich zwischen Alternativen zu entscheiden, fällt Asperger-Autisten schwer. Sich für ein „angemessenes“ Verhalten zu entscheiden, ebenfalls. Auch eine Handlung, die aus mehreren Schritten besteht, kann zur Herausforderung werden. Viele Asperger-Patienten finden es deshalb beruhigend, Tagesabläufe im Voraus festlegen zu können. Routinen vermitteln Sicherheit. „Wichtig ist für sie dabei meist nicht die Gleichförmigkeit, sondern die Vorhersehbarkeit“, sagt Tobias Leppert. „Überraschungen bedeuten für viele Stress.“

Ursächlich für das Asperger-Syndrom sind vor allem genetische und hirnorganische Besonderheiten – außerdem werden derzeit Umwelteinflüsse als Risikofaktoren diskutiert, zum Beispiel eine starke Schadstoffbelastung während der Schwangerschaft. Oft ist es ein weiter Weg bis zur korrekten Diagnose: „Viele Patienten gehen mit Schwierigkeiten durchs Leben aber wissen nicht, warum“, sagt Leppert. Bei manchen wird ADHS als Ursache ausgemacht, bei anderen Depressionen oder Angststörungen. Zwar lassen sich bereits im Kleinkindalter etwa ab 24 Monaten auffällige „Verhaltensmarker“ feststellen, so Leppert, „doch sie sind oft recht unspezifisch“.

Daher arbeitet der Psychologe daran, Erziehende in den Kindergärten stärker für die Autismus-Spektrum-Störungen zu sensibilisieren. „Denn sie haben ein intuitives Gespür dafür, dass etwas nicht stimmt, können es aber meist nicht einordnen“, sagt Leppert. Die Früherkennung ist schon deshalb wichtig, weil man so typische Begleiterkrankungen wie Depressionen oder Schlafstörungen vorbeugen kann, und es auch einfacher wird, das Umfeld zu sensibilisieren und Mobbing zu vermeiden.

„Autismus geht nicht wieder weg“, sagt Nicole Bruning. Deshalb muss den Betroffenen dabei geholfen werden, soziale Konventionen zu erlernen aber vor allem Strategien zu entwickeln, um nicht in jeder Situation alle verschlüsselten Botschaften abfangen und dechiffrieren zu müssen.