Berlin/Köln. Bewegungszwang tritt meist zusammen mit anderen psychischen Erkrankungen auf. Betroffene gönnen ihrem Körper keine Erholung und gehen so gesundheitliche Risiken ein

Fitness ist in. In Zeiten sogenannter Selbstoptimierung mit Apps und Armbändern, die jeden Schritt zählen, scheint auf Freizeitsport immer mehr ein gesellschaftlicher Druck zu lasten. Wie viel Sport gesund ist, und ab wann man von einer Bewegungssucht sprechen kann, dazu forscht Professor Jens Kleinert, Sportwissenschaftler, Mediziner und Sportpsychologe. An der Deutschen Sporthochschule Köln leitet er das Psychologische Institut. „Die von außen sichtbare Sportaktivität ist an sich kein Kriterium, das schon aussagt, ob jemand sportsüchtig ist“, sagt Kleinert.

Ein eigenständiges Krankheitsbild stellt die Sportsucht noch nicht dar – zumindest laut Klassifikationssystem der psychischen Krankheiten. „In den meisten Fällen, die uns bekannt sind, tritt die Sportsucht zusammen mit anderen psychischen Erkrankungen auf“, sagt Kleinert. Deshalb sei es schwer, exakt zu bemessen, wie viele Menschen in Deutschland an dieser Sucht litten. Tritt die Sportsucht als Begleiterscheinung von anderen Grunderkrankungen auf, spricht man von einer sekundären Sucht. „Gerade bei Ausdauersportarten betrifft die sekundäre Sportsucht oft Menschen mit Essstörungen“, sagt Kleinert. Durch exzessives Joggen kann so der Kalorienverbrauch kon­trolliert werden. Die Essstörung ist, so Kleinert, die häufigste Grunderkrankung hinter der Sportsucht. „Lust und Freude werden durch Sport überhaupt nicht mehr ausgelöst. Es ist eher so, dass Betroffene darunter leiden, nicht aufhören zu können.“

Manche gehen so weit, dass sieVerletzungen in Kauf nehmen

Betroffene, die die körperlichen Grenzen überschreiten, gehen manchmal so weit, dass sie Verletzungen in Kauf nehmen. Wie bei anderen Süchten auch, steht nun der Sport im absoluten Fokus. Familie, Freunde oder andere Hobbys werden vernachlässigt. „Der Zwang ist eines der Leitsymptome“, sagt Kleinert. Neben den Ess- seien deswegen auch Zwangsstörungen häufig Auslöser für die Bewegungssucht.

Die eine klare Ursache für Sportsucht gibt es nicht. Sportpsychologen gehen davon aus, dass sowohl biologische, psychologische als auch soziale Bedingungen vorliegen. Für Laien erst mal naheliegend ist, dass Sport ab einem gewissen Punkt „Glückshormone“ ausschüttet – und damit eine Sucht nach diesem Gefühl entsteht. Jens Kleinert aber widerspricht: „Endorphine alleine reichen für das Glücksgefühl beim Sport nicht aus.“ Vielmehr seien es komplexe Vorgänge der Psyche und des Körpers, die nur im Zusammenspiel funktionieren würden. Bei Sportsüchtigen aber steht gerade nicht das positive Gefühl im Vordergrund, sondern die Macht über den Körper.

Auch bei Sportsüchtigen kommt es zu Entzugserscheinungen, wenn die Sucht nicht befriedigt wird. Schon nach ein bis zwei Tagen ohne Sport kann es zu psychischen und körperlichen Symptomen kommen. Patienten fühlen sich ruhelos, erschöpft, ängstlich. Bei manchen kommt es zu Magen-Darm-Störungen und Muskelproblemen.

Noch gibt es für die Sportsucht keine festgeschriebene Therapieanleitung. „Als Erstes muss der Therapeut herausfinden, ob und welche Grund­erkrankung vorliegt“, sagt Kleinert. Die Arbeit an der eigentlichen Störung sei das primäre Ziel. Sport komplett zu streichen sei der falsche Weg. Vielmehr sollen Betroffene in der Therapie umlernen. Von einem Bewegen unter Zwang hin zu Aktivität, die als angenehm empfunden wird. Um Emotionen und Verhalten selber in Verbindung zu bringen, kann ein Bewegungstagebuch helfen. Hier sollten Betroffene ihre Gedanken festhalten und notieren, wie lange und wie oft sie Sport treiben. Um die Sucht zu durchbrechen, könne es helfen, eine andere Sportart zu wählen. Kleinert empfiehlt zum Beispiel bei der Sucht nach Ausdauersportarten stattdessen eine Spielsportart zu wählen. Teamsport schaffe zudem eine gute Ablenkung vom eigenen Körper.