Bochum. Sie entscheidet mit darüber, ob uns Pizza oder Spaghetti schmecken – und mit wem wir uns auf eine Beziehung einlassen. Deshalb sollte man dem Geruchssinn stärker vertrauen

53 Prozent der jungen Menschen weltweit würden eher ihrem Geruchssinn Ade sagen, als auf moderne Technologien zu verzichten. Das ist das Resultat einer internationalen Umfrage von 2011 – und erscheint erstaunlich naiv, sobald man in die zunehmend erforschte Welt des Schnüffelns eintaucht. „Das menschliche Riechen ist zumindest in der westlichen Welt ein ganz stark vernachlässigter Sinn“, sagt der Geruchsforscher Hanns Hatt von der Ruhr-Universität Bochum. „Wir haben gar keine Vorstellung davon, wie sehr Gerüche tagtäglich in unser Verhalten eingreifen.“

Und das, obwohl wir Menschen mit circa sechs bis 30 Millionen relativ wenig Riechzellen besitzen. Zum Vergleich: Hasen haben 100 Millionen, Hunde sogar 220 Millionen Riechzellen. Rund zwei Drittel der 1000 menschlichen Riechgene wurden im Laufe der Evolution abgeschaltet. Die Fähigkeit, einer Geruchsspur in der Natur zu folgen, besitzen wir aber immer noch. Das zeigt eine Studie von Forschern der University of California in Berkeley, die im Fachblatt „Nature Neuroscience“ veröffentlicht wurde.

Geruchsinformationen bleiben im Gehirn weitgehend unzensiert

Die Teilnehmer sollten einer Schokoladenöl-Duftspur auf einer Wiese nachschnüffeln. Tatsächlich schafften es die Teilnehmer, der Fährte zu folgen. Die Teilnehmer folgten der Spur wie Hunde im Zickzackkurs, mit Übung wurden sie noch schneller und präziser. Eine Trillion verschiedene Gerüche könnten wir theoretisch mit unseren Rezeptoren unterscheiden, schreiben Forscher von der Rockefeller University (New York) im Fachblatt „Science“.

Aber wie riechen wir überhaupt? Um das zu verstehen, hilft ein Gedankenspiel: An einem schönen Frühlingstag laufen wir zum allerersten Mal überhaupt an einer frisch gemähten Wiese vorbei. Der Grasduft besteht aus einer charakteristischen Mischung vieler verschiedener Duftmoleküle. Mit jedem Einatmen strömen sie in unsere Nase. Im oberen Bereich der Nasenhöhle nimmt das Riechepithel die einströmenden Duftmoleküle auf. Diese Schicht besteht aus spezialisierten Riechzellen, die Rezeptoren tragen. Die Grasmoleküle docken nach dem Eintritt an die jeweils für sie passenden Rezeptoren an. Auf diese Weise aktiviert der Duftcocktail eine charakteristische Kombination von Riechrezeptoren. „Das Duftalphabet mit seinen 350 Rezeptoren hat quasi 350 Buchstaben zur Verfügung, mit dem ein Duftwort, hier eine Grasmischung, geschrieben werden kann“, veranschaulicht Hatt.

Die beteiligten Rezeptoren verwandeln die chemischen Signale anschließend in elektrische Informationen und schicken die direkt an den Riechkolben im Gehirn. Hier bildet sich dann ein charakteristisches Aktivitätsmuster. „Dieses komplexe Grasmuster müssen wir lernen, um den Duft gemähten Grases beim nächsten Mal wiederzuerkennen“, erklärt Hatt. Zusammen mit tiefer gelegenen Gehirnarealen, dem limbischen System, entstehen Gefühle, eine Art „emotionaler Stempel“. Diesen speichert unser Gedächtniszentrum, der Hippocampus, als neuen Eindruck ab: Grasmuster gleich Frühling, Sonne, Freizeit. „Man kann sich das so vorstellen: Im Gehirn wird mit jedem Aktivitätsmuster eine Art Paket geschnürt, das ich mit dem Riechen desselben Dufts dann wieder auspacke“, beschreibt Hatt.

„Geruchspakete“ zum Auspacken besitzt Michael Merkers aus dem Emsland nicht. Der 28-Jährige hat Anosmie, sein Riechkolben hat sich im Mutterleib nicht ausgebildet. „Bis zu meinem achten Lebensjahr wusste ich gar nicht, dass Gerüche existieren“, erzählt er. Erst als er beim Spielen die angeekelten Reaktionen seiner Freunde auf einen stinkenden Reifenbrand beobachtete, wurde ihm klar – „mir fehlt da etwas“. Mittlerweise hat er in allen Zimmern seiner Wohnung Feuermelder angebracht. „Bis ich ein Feuer wahrnehmen würde, wären die ersten Räume meiner Wohnung schon abgebrannt“, sagt Merkers. In seiner Schilderung liegt der Schlüssel dazu, was den Geruchssinn so besonders macht: Im Gegensatz zu anderen Sinnen bleiben Geruchsinformationen im Gehirn weitgehend unzensiert. Die Signale landen fast ungefiltert im limbischen System, dem ältesten und primitivsten Gehirnareal, und werden mit unseren Emotionen gekoppelt im Gedächtnis abgespeichert. Zum Vergleich: Visuelle und taktile Sinneseindrücke gehen gewissermaßen einen Umweg, müssen zunächst den Thalamus durchqueren, der diese Eindrücke filtert und aussortiert. Die wesentliche Bedeutung des Geruchssinn belegt auch die Evolutionsgeschichte: Dieser Sinn gilt als erste Sinneswahrnehmung überhaupt, die sich schon bei Einzellern ausbildete.

Dass sich unsere Emotionen unmittelbar mit Geruchsbegegnungen kurzschließen, macht evolutionär Sinn: So konnten Gefühle unser Verhalten relativ zuverlässig durch den Dschungel an wiederkehrenden Entscheidungen steuern. Frische Beeren, ja bitte; verdorbenes Fleisch, nein danke: Der Geruchssinn ist ein effizientes System, das schnell von Erfahrungen lernt, indem es Gerüche und damit verbundene Emotionen gekoppelt abspeichert.

Unsere Manipulierbarkeit durch Gerüche setzt genau bei dieser Koppelung an. Denn die Wechselwirkung zwischen Gerüchen und Gefühlen funktioniert tatsächlich in beide Richtungen: „Wenn charakteristische Gerüche emotionale Erinnerungen auslösen, ist vom Proust-Effekt die Rede“, sagt Hatt. Der Ausdruck geht auf den französischen Schriftsteller Marcel Proust zurück: In seinem Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ riecht der Protagonist zum ersten Mal seit Langem einen Madeleine-Keks, was in ihm eine Welle von Kindserinnerungen an das Dorf seiner Tante Léonie auslöst. Für die Wechselwirkung von Gerüchen und Gefühlen gibt es viele Beispiele aus der Forschung. Wenn Probanden einem angenehmen Geruch unbewusst ausgesetzt sind, bewerten sie Gesichter als attraktiver – Schönheit liegt also auch in der Nase des Betrachters. In der Forschung werden solche Erkenntnisse als Beleg für eine Art achtförmige Autobahn im Gehirn gewertet, auf der Informationen ständig in beide Richtungen reisen und sich gegenseitig beeinflussen: Durch eine Rückkopplungsschleife werden bereits entstandene Geruchsvorzüge durch permanenten Abgleich mit neuen Erfahrungen verstärkt oder geschwächt.

Dass Gerüche zu den unmittelbarsten und stärksten Auslösern unserer Erinnerungen und Gefühle zählen, legt nach der Evolutionslogik nahe, dass die guten Riecher unter unseren Vorfahren länger überlebten und sich erfolgreicher fortpflanzten. „Zur Nahrungsaufnahme und für die Partnerwahl war und ist das Riechen entscheidend“, bestätigt der Geruchsforscher Thomas Hummel, Facharzt für Pharmakologie und Toxikologie am Universitätsklinikum Dresden.

Ein genauerer Blick auf besagte Nahrungsaufnahme deckt ein Missverständnis über das Riechen auf: „Wenn wir Spaghetti Bolognese, Pizza oder Kartoffelgratin verspeisen, laufen rund 80 Prozent des Geschmackserlebnisses über unsere Nase“, erklärt Hatt. Unsere Zunge unterscheide zwar zwischen den fünf Grundqualitäten süß, sauer, salzig, bitter und umami – mehr aber auch nicht. „Wenn wir sagen, dass etwas gut schmeckt, müsste es eigentlich heißen: Das riecht gut“, bemerkt er.

Generell schneiden viele Menschen aus westlichen Gesellschaften in Geruchstests nur mäßig ab. Das könnte auch daran liegen, dass westlichen Probanden oft schlicht die Worte fehlen. Die Forscherin Asifa Majid von der Radbout Universität Nijmwegen (Niederlande) hat herausgefunden, dass der sprachliche Fokus auf Gerüche zwischen verschiedenen Kulturen enorm variieren kann. „Menschen aus dem mitteleuropäischen Sprachraum haben durchgehend große Schwierigkeiten, selbst eindeutige Gerüche genau zu benennen“, erklärt sie. Im Vergleich zu ihren mitteleuropäischen Probanden traf Majid auf ihrer Forschungsreise nach Malaysia mit der Jäger- und Sammlergemeinschaft Jahai auf echte Geruchsexperten. „Die Ureinwohner haben mich sehr überrascht, denn sie besitzen einen ganz eigenen Wortschatz nur für Gerüche“, sagt sie. „Itpit“ bezeichne den Geruch, der einem Marderbär, einem Durianbaum, Blumen und Seife gemein ist; „pus“ solle verkommene Hütten, Pilze und verfaulten Reis beschreiben. „Bei Gemeinschaften wie den Jahai gehören Gerüche eben zum alltäglichen Leben und Überleben.“

Die Verflochtenheit des Riechens mit Sexualität spielt eine starke Rolle

Sind wir Westler also zu Schnüffelbanausen verkommen? „Es scheint, als hätten westliche Kulturen den Geruchssinn jahrhundertelang unterdrückt“, kommentiert Majid. Der Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, habe sogar behauptet, dass die Unterdrückung unseres triebhaften Geruchssinns ein entscheidender Motor hinter unserer Zivilisation war: „Wir leben in einer desodorierten Welt, in der wir nicht nur unsere eigenen Gerüche unterdrücken müssen, sondern auch nicht über sie sprechen dürfen. Überlegen Sie doch mal, wie unangebracht es wäre, den Körpergeruch eines Kollegen zu kommentieren.“

Hatt hat einen ähnlichen Erklärungsansatz: „Seit Jahrhunderten will sich der Mensch über die Triebhaftigkeit der Tiere stellen, etwas Besonderes sein. Riechen war immer der klassische Tiersinn, der Mensch sollte sich Gehirn und Geist zuwenden.“ Zudem spiele die Verflochtenheit des Riechens mit Sexualität eine starke Rolle.

Wie sehr es gerade bei der Partnerwahl darauf ankommt, den anderen gut riechen zu können, erforschen Wissenschaftler intensiv. In der Untersuchung des Schweizer Forschers Klaus Wedekind rochen Frauen an T-Shirts, die vorher von Männern vollgeschwitzt wurden. Das Ergebnis: Am liebsten mochten die Frauen jeweils das Shirt des Mannes, dessen Erbgut sich von ihrem eigenen am stärksten unterschied. „Die Grundidee ist, dass der Partner genetisch etwas von uns abweichen sollte“, erklärt Hummel. Einen potenziellen Partner gut riechen zu können, soll uns laut Hummel auch suggerieren: Mit diesem Menschen kann ich gesunden Nachwuchs zeugen.