Bonn. Die kleinen Insekten gelten als sehr zäh, doch die Bestände von 92 Prozent der hiesigen Arten gehen zurück. Dabei sind die Tiere für Ökosysteme extrem wichtig

Unter Insektenforschern gibt es die Schätzung, dass alle Ameisen auf der Erde zusammen etwa so viel wiegen wie alle Menschen. Der Vergleich verdeutlicht, wie viele dieser Winzlinge auf dem Planeten wuseln. In Deutschland sind sie auf dem Rückzug: Nach Angaben des Bundesamts für Naturschutz (BfN) schrumpfen 99 der insgesamt 108 vorkommenden Arten.

Nicht nur bezüglich ihrer Gesamtmasse werden diese Insekten oft unterschätzt, sondern auch hinsichtlich ihrer Rolle für die Ökosysteme. „Ameisen sind einer der Gipfel der sozialen Evolution und in manchen Gegenden wichtiger für die Böden als Regenwürmer“, sagt Prof. Jürgen Heinze von der Universität Regensburg. Der Verlust an Ameisen könnte also schwerer wiegen, als die winzigen Tiere vermuten lassen.

„Die Bestände von fast 92 Prozent der Arten nehmen derzeit ab“, heißt es im Artenschutz-Bericht, den das BfN kürzlich veröffentlichte. 56 Arten gelten demnach im Bestand gefährdet, eine Art als ausgestorben.

„Für diesen kurzfristigen Trend haben sich Experten die Entwicklung der Ameisen in den vergangenen 25 Jahren angeschaut“, sagt Dr. Sandra Balzer, Leiterin des Fachgebiets Zoologischer Artenschutz beim Bundesamt in Bonn. Unter anderem wurden Kolonien gezählt. Auch wenn ein Lebensraumtyp stark zurückgehe und eine Art sehr an ihn angepasst sei, wurde das als Zeichen einer Bedrohung gewertet.

Einen besonders deutlichen Rückgang verzeichnete das BfN bei zwei Arten: der Kerbameise Formica foreli und der Großen Wiesenameise (Formica pratensis). Gerade solchen Offenland-Ameisen geht der Lebensraum zunehmend verloren. Seit den 1990er-Jahren sei etwa der Lebensraum von Formica foreli um rund 80 Prozent geschrumpft, heißt es.

Offenland-Ameisen lieben Landschaften ohne dichte Pflanzendecke. Bewuchsarme Böden, Trockenrasen und Sand sind ihnen am liebsten. „Diese Ameisen brauchen gut besonnte Trockenflächen mit niedriger Vegetation. Ausweichen können sie nicht“, sagt der Ameisenforscher Dr. Bernhard Seifert vom Senckenberg Museum für Naturkunde in Görlitz.

Waldbewohnende Ameisen mögen alte Bäume und Totholz

Als Gründe für die schwindenden Lebensräume der Offenland-Ameisen sieht Seifert vor allem die Ausweitung der Landwirtschaft und die Verbu-schung ehemaliger Militärflächen. „Aktive Truppenübungsplätze sind Goldgruben der Biodiversität“, sagt er. „Hier halten sich Arten, die woanders in der Agrarlandschaft oft nur ein klägliches Dasein fristen oder vollends ausgelöscht sind.“ Mit den Soldaten verschwindet meist die offene Landschaft, sie wächst zu oder wird aufgeforstet. Und wenn Brachflächen als Äcker genutzt werden, steigt durch Düngung der Stickstoffeintrag. Seifert: „Das führt zu einem Einbruch in der Artenvielfalt.“ Intensive Landwirtschaft setzt auch den Moor-Ameisen zu. Sie leiden unter der Entwässerung der Moore. „Entscheidend ist auch der Eintrag von Nährstoffen in Moore, bedingt durch die Landwirtschaft“, sagt BfN-Expertin Balzer. Das verändert die Pflanzenwelt und damit den Lebensraum dieser Ameisen.

Waldbewohnende Ameisen schwinden ebenfalls, vor allem durch die Holzgewinnung. „Alte Eichen sind seit Jahrhunderten der Lebensraum für Ameisen“, erläutert Seifert. „Es dauert lange bis so ein Lebensraum wiederhergestellt ist.“ Ähnliches gelte für jene Arten, die in totem Holz siedeln: „Totholz braucht 20 bis 30 Jahre, bis sich Ameisen dort niederlassen wollen.“ Zum Schutz der Artenvielfalt fordert Seifert, etwa ein Zehntel von jedem Wald in Ruhe zu lassen.

Ein Verschwinden der Insekten hätte weitreichende Folgen, sagt der Biologe Heinze: „Würde man die Ameisen aus einem Ökosystem entfernen, würde es mehr oder weniger zusammenbrechen oder sich zumindest stark verändern.“ Eine Modellrechnung von tropischen Regenwäldern habe ergeben, dass rund 30 Prozent der tierischen Biomasse Ameisen und Termiten seien. Allein wegen dieser Masse wären gravierende Folgen unausweichlich.

Die mehr als 100 hiesigen Ameisen-Arten erfüllen in ihren Lebensräumen unterschiedliche Funktionen. Manche räuberischen Spezies fressen etwa Raupen und Spinnen, andere dienen als Beute. Ihre Larven werden etwa von Wildschweinen oder Spechten verzehrt. Und viele Ameisen verbreiten Samen von Pflanzen wie etwa Buschwindröschen, sagt Heinze.

Forscher staunen auch über die kognitiven Leistungen von Ameisen. So finden Kolonien rasch den kürzesten Weg zwischen Nest und einer Futterquelle. Wer den schnellsten Weg zu einem Leckerbissen gefunden hat, kehrt als erster zum Nest zurück. Die anderen Ameisen folgen dem Geruch von Duftstoffen – im Nu entsteht eine Ameisenstraße.

Ameisen sollten besser geschützt werden, sagen Wissenschaftler unisono. „Es müssen aber nicht immer Schutzgebiete sein“, betont Sandra Balzer. Bei Wäldern sei eine naturnähere Bewirtschaftung wichtig. Und bei Renaturierungsmaßnahmen müsse man immer auch an die Lebensräume der Ameisen denken. „In erster Linie geht es um mehr Verständnis für die Tiere und ihren Lebensraum.“ Ähnlich sieht es Biologe Heinze – „Ameisen direkt zu schützen, ist schwierig.“ Wichtig sei, Trockenrasen, Moore, Wälder und andere Lebensräume, so zu belassen, wie sie sind. „Je mehr große Flächen wir in Äcker oder in Monokulturen umwandeln, desto mehr Arten verlieren wir.“

Wie viele Ameisen-Arten tatsächlich stark bedroht sind, ist nach Auffassung der Wissenschaftler trotz des Artenschutz-Berichtes unklar. Seifert sieht eine „gebremste Katastrophe“. Helfen würde mehr Forschung: „Wir haben die Leute nicht, die Ameisen im Freiland in Deutschland sachkundig erfassen. Das ist ein Armutszeugnis, wenn man bedenkt, dass Ameisen eine Schlüsselrolle im Stoff- und Energiefluss vieler Ökosysteme einnehmen.“