Seoul/Bonn. Das Virus ist offenbar ansteckender aber weniger gefährlich als vermutet. Viele Infektionen werden kaum wahrgenommen.

Schon seit Jahren kursiert das Mers-Virus im Nahen ­Osten. Vereinzelt wurde die Infektion von Reisenden in andere Länder gebracht, größere Ausbrüche gab es dort jedoch nie – bis das Virus in einer südkoreanischen Klinik immer mehr Menschen erkranken ließ. Am 20. Mai war der Erreger bei einem 68-Jährigen nachgewiesen worden, der kurz zuvor aus dem Nahen Osten zurückgekehrt war. Inzwischen sind mehr als 100 Menschen erkrankt, bis Mittwoch starben neun Patienten.

Damit ist der Ausbruch in Südkorea der größte bisher registrierte außerhalb des Nahen Ostens. Weltweit erfasste die Weltgesundheitsorganisation (WHO) seit September 2012 mehr als 1200 Infektionen, mehr als 400 endeten tödlich. Eine vorbeugende Impfung oder spezielle Therapie gegen das Mers-Coronavirus (Mers-CoV) gibt es bislang nicht.

In Südkorea schlossen die Behörden vorsichtshalber Hunderte Schulen, etliche Menschen gehen nur noch mit Atemmaske in die Öffentlichkeit. Penibel werden all diejenigen ausfindig gemacht, die sich bei einem Mers-Kranken angesteckt haben könnten – mittlerweile stehen fast 3000 Menschen unter Quarantäne. „Sicherlich gehen Maßnahmen wie Schulschließungen etwas weit, aber man möchte eben in der jetzigen Situation keine Fehler machen“, erklärt Prof. Christian Drosten, Direktor des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Bonn.

Südkorea ist ein Land mit gut funktionierendem Gesundheitssystem – umso überraschender schien darum zunächst, dass es ausgerechnet dort zu einem so massiven Mers-Ausbruch kommt. Ursache war offenbar, dass die Krankheit anfangs nicht erkannt und ihr Ansteckungspotenzial unterschätzt wurde. Das Virus ging vom ersten Patienten auf Angehörige wie Frau und Sohn, Pflegepersonal, Mitpatienten und deren Besucher über.

Als die Mers-Infektion schließlich offiziell feststand, war die Infektionswelle bereits in vollem Schwung. Ein Infizierter war zudem bereits nach China gereist – und wird seither dort auf einer Isolierstation behandelt. Ein achtköpfiges Expertenteam der WHO reiste Anfang Juni nach Südkorea, um die Lage vor Ort zu untersuchen.

Experten hatten erwartet, dass es zu einer Verschleppung kommen wird

Grundsätzlich sei der Ausbruch nicht wirklich überraschend, sagt Prof. Gerd Sutter, Virologe am Institut für Infektionsmedizin und Zoonosen der Universität München. Die Entwicklung der Infektion im Nahen Osten habe erwarten lassen, dass es zu Verschleppungen in andere Regionen komme – und auch, dass zuerst eine Klinik betroffen sein könnte. Solche Fälle seien auch für Europa und die USA denkbar.

Ähnliche Infektionsketten in Kliniken habe es auch in Saudi-Arabien bereits mehrfach gegeben, sagt Christian Drosten. Aggressiver geworden sei das Virus höchstwahrscheinlich nicht. „Die Viren sehen in diesem Jahr nicht groß anders aus als in den beiden Jahren zuvor.“ Höhere Todesraten bei Klinikausbrüchen gibt es vor allem deshalb, weil der Erreger dort auf viele Menschen mit Vorerkrankungen trifft. Eine neue Erkenntnis aus dem Ausbruch in Südkorea mit seinen vielen, auf einen Mann zurückgehenden Infektionen ist Sutter zufolge, dass es offenbar – ähnlich wie bei Sars – auch bei Mers sogenannte Superspreader gibt: Patienten, die besonders viele Viren verbreiten und darum auch besonders viele andere Menschen anstecken.

Mers- und Sars-Virus gehören zu den Beta-Coronaviren, ebenso wie viele Schnupfen- und Erkältungsviren. Das Mers-Virus war erstmals 2012 in Saudi-Arabien nachgewiesen worden. Symptome des zunächst grippeähnlichen „Middle East Respiratory Syndrome“ sind Fieber, Lungenentzündung, Durchfall und Nierenversagen.

„Überwachung und Kontrolle laufen in dem hoch entwickelten Gesundheitssystem Südkoreas besser als in Saudi-Arabien“, erklärt Sutter. Die Behörden in dem asiatischen Land hätten in den vergangenen Wochen sehr gute Arbeit geleistet. „Aus der Auswertung der Daten dort werden wir viel lernen können.“ So lasse die Infektionswelle in Südkorea vermuten, dass das Virus ansteckender ist als bisher angenommen. „Die Übertragbarkeit haben wir wahrscheinlich unterschätzt.“

Allerdings sei das Virus wohl auch weniger gefährlich. Schließlich liege die Todesrate mit etwa acht Prozent weit niedriger als die bei den insgesamt registrierten Fallzahlen – circa 37 Prozent. Und dabei sei noch nicht berücksichtigt, dass es sich um einen Klinikausbruch mit vielen bereits zuvor schwer kranken Patienten handelt. In der Bevölkerung insgesamt liege der Wert vermutlich noch niedriger.

Hinweise darauf, dass viele Mers-Infektionen so mild verlaufen, dass sie kaum wahrgenommen werden, gab es schon zuvor: Allein in Saudi-Arabien haben sich nach der Hochrechnung eines Forscherteams um Drosten in den vergangenen zehn Jahren wohl mehr als 40.000 Menschen mit dem Virus angesteckt, ohne es zu merken. Das bedeute allerdings auch, dass Mers in vielen Ländern schon weiter verbreitet sein könnte als bisher bekannt, schrieben die Forscher im Mai im Fachblatt „The Lancet Infectious Diseases“.

Das Virus wird nach bisheriger Erkenntnis schon seit etlichen Jahren unerkannt von Kamelen auf Menschen übertragen. Seltener kommt es – wahrscheinlich über größere Tröpfchen – zu einer Ansteckung von Mensch zu Mensch. Erst im Jahr 2012 wurde ein Patient gezielt untersucht. Dabei wurde das zuvor unbekannte Coronavirus entdeckt. Seither steigt die Zahl registrierter Erkrankungen, keineswegs verheerend schnell, aber stetig.

In Deutschland hatte es erst im März den dritten Mers-Fall gegeben. Zuvor waren 2012 und 2013 zwei Patienten in Deutschland behandelt worden. Einer von ihnen wurde gesund, der andere starb. Alle drei Patienten seien zuvor auf der arabischen Halbinsel gewesen, hieß es beim Robert Koch-Institut (RKI) in Berlin. Menschen aus dem Umfeld der Betroffenen haben sich in Deutschland bisher nicht angesteckt. Weitere importierte Fälle seien aber jederzeit möglich, da etwa eine Million Menschen jährlich aus den Ländern der arabischen Halbinsel nach Deutschland fliegen, so das RKI.

Derzeit ist dort ein Ausbruch im Osten von Saudi-Arabien bekannt – der aber wohl nicht der einzige ist. „In Saudi-Arabien werden die Fälle weniger eng beobachtet und es ist davon auszugehen, dass längst nicht jeder Mers-Patient auch diagnostiziert wird“, sagt Drosten. Die WHO rät Ländern weltweit, verstärkt auf Wellen von Atemwegserkrankungen und ungewöhnliche Erkrankungsmuster zu achten. Von einer drohenden Pandemie ist den Experten zufolge aber nach derzeitigem Stand nicht auszugehen – anders als bei Sars vor einigen Jahren befürchtet. Rund 800 Menschen waren 2002 und 2003 binnen weniger Monate gestorben, Tausende hatten sich infiziert. Ein großer Teil der Sars-Verbreitung ging auf einen einzelnen Mann zurück: einen Mediziner aus der südchinesischen Provinz Guangdong, der nach Hongkong reiste und – bereits schwer erkrankt – in einem Hotel eincheckte.

Regierung in Südkorea will den Ausbruch rasch eindämmen

Anders als bei Sars könnte es bald eine Impfung gegen Mers-CoV geben: An Mäusen sei die Wirksamkeit eines Impfstoffkandidaten seines Teams bereits getestet worden, sagt Sutter. Eine erste klinische Studie an einigen Probanden zur Verträglichkeit sei geplant.

Zumindest der Ausbruch in Südkorea dürfte schon lange vor Beginn dieser Untersuchung zu Ende gehen. Die jetzige Phase sei für die weitere Entwicklung entscheidend, verkündete die Regierung Anfang der Woche. Dank der Gegenmaßnahmen rechnet sie mit einem baldigen Abflauen der Neuinfektionen.