Genf . Nach zwei Jahren Pause wollen Physiker mit dem Teilchenbeschleuniger LHC das Rätsel der Dunklen Materie lösen

Der Riese ist empfindlich, das lassen seine enorme Kraft und Größe manchmal vergessen. Kaum hatte der Large Hadron Collider (LHC) im September 2008 mit der Arbeit begonnen, fiel das Kühlsystem aus; einige Tage später schmorte eine Elektroverbindung zwischen zwei Magneten durch, was für eine einjährige Zwangspause sorgte. Danach lief der Teilchenbeschleuniger zwar zu Höchstform auf und ermöglichte 2012 die sensationelle Entdeckung des Higgs-Teilchens. Trotzdem haben die Wissenschaftler am Kernforschungszentrum CERN in Genf die anfänglichen Probleme noch gut in Erinnerung – und bangen, dass nach dem Umbau der unterirdischen Anlage in den vergangenen zwei Jahren alles glattgeht, wenn der LHC Ende März mit fast doppelter Leistung wieder hochfährt.

„Wir werden immer aufgeregter“, sagt Kerstin Borras. Die Physikerin vom Deutschen Elektronen-Synchro­tron (DESY) in Hamburg gehört zu einer Gruppe von etwa 150 Forschern aus der Hansestadt, die an den Experimenten in Genf mitwirken, als Teil einer Gemeinschaft von rund 10.000 Wissenschaftlern aus aller Welt. Sie alle wollen mit der gewaltigen „Weltmaschine“ nach weiteren unentdeckten Teilchen suchen – in der Hoffnung, auf eine neue Physik zu stoßen.

In dem Bemühen, der Natur ihre Geheimnisse zu entlocken und die Beschaffenheit des Kosmos zu erklären, simulieren die Forscher in der kreisförmigen Röhre des LHC Zustände, wie sie vermutlich kurz nach dem Urknall vor 13,8 Milliarden Jahren herrschten, als alle Partikel entstanden, die heute bekannt sind – und womöglich solche, die wir bisher nicht kennen. Schon lange vor dem Bau der Anlage gab es zwar mit dem Standardmodell der Teilchenphysik ein extrem genau berechnetes Konstrukt, das die Grundbausteine unserer Welt (Materieteilchen) beschreibt und die Kräfte, die zwischen ihnen wirken (Kraftteilchen). Doch es fehlte der Nachweis eines zentralen Elements – des Higgs-Bosons.

Mit dem Standardmodell lassen sich nur fünf Prozent des Universums erklären

Denn die mathematischen Formeln machten nur Sinn, solange man davon ausging, dass Teilchen keine Masse haben. Masselos sind aber nur Lichtteilchen (Photonen) und Gluonen. Wären alle Teilchen masselos, bewegten sie sich so schnell wie das Licht; es gäbe keine Zusammenballungen, keine Materie ­ und damit keine Erde, keine Menschen, Pflanzen und Tiere.

Eine Lösung für das Dilemma lieferten 1964 der schottische Physiker Peter Higgs, sein belgischer Kollege François Englert und drei weitere Forscher. Ihnen zufolge existiert um uns herum ein unsichtbares Feld, dass das Universum durchdringt und Teilchen ihre Masse verleiht, wenn sie mit dem Feld in Wechselwirkung treten. Fliegen sie hindurch, werden sie abgebremst und bekommen eine Masse. Auf dieses Feld, schrieb Higgs damals, könnte ein bestimmtes Teilchen hindeuten.

Da das Feld unsichtbar ist, versuchen Physiker, es über seine Schwingungen zu „erfühlen“. Dazu braucht es sehr viel Energie. Diese lässt sich herstellen, wenn Teilchen in Beschleunigern aufeinanderprallen. Im LHC, der stärksten Maschine dieser Art, gelang schließlich der Nachweis des Higgs-Teilchens, fast ein halbes Jahrhundert nach der Veröffentlichung der Theorie. 2013 erhielten Peter Higgs und François Englert den Physik-Nobelpreis.

Doch der riesige Teilchenbeschleuniger in Genf war für mehr gebaut worden. Denn mit dem Standardmodell lassen sich nur etwa fünf Prozent des Universums erklären. Gemeint ist all das, was wir sehen, etwa Planeten und Sterne. Der gewaltige Rest ist für uns unsichtbar und vermutlich gefüllt mit der Dunklen Materie, die Galaxien wie ein Kitt zusammenhält, und der stärkeren Dunklen Energie, die gleichzeitig dafür sorgt, dass sich das Universum immer schneller ausdehnt.

Welche Kräfte und Teilchen sind dabei am Werk? Die Dunkle Energie dürfte sich den CERN-Forschern noch länger entziehen, da überzeugende Theorien für ihre Zusammensetzung fehlen. Besser ist es um Ansätze zur Erklärung der Dunklen Materie bestellt.

Eine Erweiterung des Standardmodells bildet die Theorie der Supersymmetrie, kurz Susy. Ihr zufolge hatten die heute bekannten Elementarteilchen einst massereichere Partner, die nur kurz nach dem Urknall auftraten. Das leichteste dieser Teilchen namens Neutralino könnte aber heute noch existieren und eines jener Partikel sein, aus denen Dunkle Materie besteht.

Die CERN-Forscher hatten mit dem LHC bereits im ersten Durchlauf versucht, Susy-Teilchen zu erzeugen – ohne Erfolg. „Nun versuchen wir, noch näher an den Urknall-Zustand heranzukommen“, sagt Kerstin Borras. Dafür sind höhere Energien nötig, die der LHC nun womöglich erreicht. Bei den kommenden Experimenten sollen Protonen in seinem Inneren (siehe Infokasten) mit einer Energie von 13 Teraelektronenvolt (TeV) aufeinanderprallen. Während des ersten Durchlaufs waren es sieben bis acht TeV.

Würden die CERN-Forscher dann auf Susy-Teilchen stoßen, könnten diese noch mehr erklären als die Dunkle Materie. Daten aus Experimenten deuten darauf hin, dass sich die drei Grundkräfte des Standardmodells, die elektromagnetische Kraft, die schwache und die starke Kernkraft bei zunehmenden Energien annähern, bis sie sich schließlich vereinigen. Das hieße, das es ganz am Anfang des superheißen und kompakten Universums nur eine einzige Naturkraft gab. Das gilt jedoch nur, wenn man die von der Supersymmetrie postulierten, bisher unentdeckten Partnerteilchen annimmt.

Die Supersymmetrie sagt nicht nur Susy-Teilchen voraus, sondern auch mindestens fünf verschiedene Higgs-Teilchen. Würden die CERN-Forscher diese Partikel entdecken, stützte dies die Susy-Theorie. „Vielleicht gelingt uns der Aufbruch in das dunkle Universum“, sagt der deutsche CERN-Generaldirektor Rolf-Dieter Heuer. Seine Nachfolgerin, die italienische Physikerin Fabiola Gianotti, fügt hinzu: „Dieser enorme Energieschub gibt uns viel größere Möglichkeiten, fundamentale Fragen der Menschheit nach dem Wesen des Universums zu beantworten.“

Die „Kamera“ des Detektors CMS macht 40 Millionen Bilder pro Sekunde

Die Techniker und Wissenschaftler am CERN hatten dafür viel zu tun. Von den 1232 supraleitenden Magneten, die in der ringförmigen Beschleunigerröhre die Teilchen auf dem vorgegebenen Radius halten, wurden 18 ausgetauscht (supraleitend bedeutet, dass der Strom in den Magnetspulen ohne Widerstand fließt, was ihren Wirkungsgrad gegenüber herkömmlichen Magneten erheblich verbessert). Mehr als 10.000 Starkstromverbindungen zwischen Magneten wurden verstärkt.

Im Inneren des Beschleunigers kommt es pro Sekunde zu mehr als einer Milliarde Teilchenkollisionen. Aus diesem Wust sollen die CERN-Forscher künftig gezielter bestimmte „Ereignisse“ herausfiltern können, denn die Technik der Detektoren, die Rechenleistung der beteiligten Computer und die Software wurden verbessert. Ein zentraler Teil der Detektoren sind deren Spurendetektoren, die Signale aus dem Zerfall der Teilchen registrieren. Der Spurendetektor des Instruments CMS nahm im ersten Durchlauf 20 Millionen Bilder pro Sekunde auf. „Nun werden wir 40 Millionen Bilder pro Sekunde machen“, sagt Kerstin Borras, die seit 2014 stellvertretende Sprecherin des CMS-Teams ist.

Um die höhere Intensität der Teilchenstrahlen auszuhalten, soll der Spurendetektor nun bei minus 15 Grad betrieben werden; zuvor war die Temperatur bei knapp über null Grad gehalten worden. Bei ersten Versuchen mit der erneuerten Anlage habe sich vereinzelt Eis an der Apparatur gebildet, weil sie noch nicht gut genug isoliert gewesen sei, erzählt Borras. „Das haben wir jetzt aber im Griff. Jetzt kann es losgehen.“