Ein gefährliches Tier? Falsch! Der Wolf ist von Natur aus scheu. Den Umgang mit diesem faszinierenden Wildtier müssen wir erst wieder lernen – sagen zwei Experten aus dem Norden.

Der eine nördlich, der andere südlich von Hamburg: Beide Wildparks mit Wölfen in ihren Gehegen liegen an der Autobahn 7. Wolf v. Schenck leitet den Wildpark Eekholt an der Autobahn 7 nördlich von Hamburg seit zwölf Jahren, dort leben seit 1993 europäische Wölfe. Seitdem gibt es täglich spezielle Führungen am Wolfsgehege, im Februar finden die „Eekholter Wolfsnächte“ statt. Gleichzeitig dient der Wildpark als Wolfsinformationszentrum des Landes Schleswig-Holstein. Die neue „Eekholter Wolfsmeile“ informiert über Konfliktfelder und Lösungsansätze.

Tanja Askani betreut seit 1992 Wölfe im Wildpark Lüneburger Heide in Nindorf an der A 7 südlich von Hamburg, dort leben zum Beispiel Timberwölfe, Europäische Grauwölfe und Polarwölfe. Seit zwei Jahren betreibt der Wildpark zudem Niedersachsens erste Auffangstation für verletzte wild lebende Wölfe. Bislang ist kein Tier hergebracht worden.

Hamburger Abendblatt: Welches ist denn der populärste Irrtum zum Wildtier Wolf?

Wolf v. Schenck: Ein großer Irrtum ist, dass der Mensch vor dem Wolf Angst haben muss. Wölfe sind sehr schlaue, aber auch scheue Tiere. In Eekholt zeigen wir deshalb ausschließlich alttieraufgezogene Wölfe, die sich ähnlich verhalten wie frei lebende Tiere. Obwohl wir sie täglich füttern, haben sich diese Tiere ihre natürliche Scheu noch bewahrt.

Wenn wir bei einer Fütterung die Besucher fragen, wie die Wölfe wohl reagieren, wenn wir ins Gehege gehen, erhalten wir häufig die Antwort: „Nein, geh da nicht rein, die zerfleischen dich!“ Wir fragen dann, ob wir das mal ausprobieren sollen. Allein das Öffnen der Schleuse zum Gehege reicht dann schon aus, damit sich die Wölfe zur anderen Ecke des Geheges zurückziehen. Das ist ein eindrucksvolles Bild und bringt Skeptiker dazu, darüber nachzudenken, ob Wölfe für Menschen gefährlich sind oder nicht.

Tanja Askani: Ein großer Irrtum ist auch, dass der Wolf im Rudel mit strengen hierarchischen Strukturen lebt. Der Wolf lebt nicht im Rudel, sondern im Familienverbund mit Eltern und Jungtieren. In der freien Wildbahn gibt es keine Alpha-, Beta- oder Omegatiere.

Wenn die Landesjägerschaften aktuelle Bestände melden, sprechen sie doch aber stets von Rudeln. In Niedersachsen sind derzeit fünf bestätigt.

Askani: Gemeint sind damit jeweils zwei zeugungsfähige Tiere mit ihrem Nachwuchs. Die Jungtiere verlassen das Revier aber im Alter von etwa sechs bis 19 Monaten. Es entsteht niemals ein sogenanntes „Rudel“. Die Wolfsfamilien werden niemals größer. Die Sorge, dass aus einem Paar in ein paar Jahren ein ganzer Trupp von zig Tieren werden könnte, ist daher unbegründet.

v. Schenck: Momentan haben wir in Schleswig-Holstein nur Einzelwölfe, die aber noch kein festes Revier besetzt haben. Wolfspaare oder ein reproduzierendes Rudel sind hier noch nicht nachgewiesen worden. Im bundesweiten Monitoring werden ausschließlich nachgewiesene Wolfsrudel (34) und –paare (2) benannt. Wolfsrudel bestehen in Deutschland aus den Alttieren, den Welpen und möglicherweise noch im Rudel befindlichen Jährlingen. Da Wölfe in der freien Natur eine hohe Jugendsterblichkeit haben, wird die Hälfte der Welpen allerdings nicht einmal ein Jahr alt. In anderen Ländern – beispielsweise Nordamerika oder Russland – können Wolfsrudel auch deutlich größer als in Deutschland sein.

Wenn ich weiß, dass in der Nähe meines Wohnortes Wölfe gesichtet worden sind, kann ich dann noch sorglos im Wald joggen gehen?

v. Schenck: Auf jeden Fall! Wölfe haben eine natürliche Scheu vor dem Menschen und sehen, hören oder riechen ihn unter guten Bedingungen schon aus einer Ent-fernung von mehreren Kilometern und ziehen sich dann zurück. Die Beobachtung eines frei lebenden Wolfes ist deshalb äußerst selten – für viele Menschen ein ganz besonderes Erlebnis. Wenn man beim Joggen einen Hund mit dabeihat, sollte man ihn im Wald generell an der Leine halten – das gilt natürlich auch in bekannten Wolfsgebieten. Dabei geht es übrigens nicht nur um den Schutz des Hundes, sondern auch der Wild- und Nutztiere. Untersuchungen des Wolfsinfozentrums aus den vergangenen vier Jahren zeigen, dass die meisten Nutztierrisse in Schleswig-Holstein nachweislich durch Hunde verursacht wurden – und nicht durch den Wolf.

Askani: Sie waren ja auch schon joggen, bevor der Wolf per Wildkamera fotografiert wurde – er war da aber auch schon da. Von allen Wildtieren, die uns körperlich überlegen sind, geht eine potenzielle Gefahr aus. Auch von Wildschweinen, auch von Hirschen. Was uns schützt, ist die Fluchtdistanz, die Wildtiere stets zu Menschen einhalten. Die ist abhängig vom Alter des Wolfes: Unerfahrene Jungtiere, die zum ersten Mal alleine losziehen, sind verspielt, neugierig und unvorsichtig. Da kann es passieren, dass sie uns näher kommen, als uns lieb ist. Bei erwachsenen Wölfen gibt es kaum eine Chance, ihnen überhaupt zu begegnen. Sie sind viel zu scheu dafür.

Kann ich für den nächsten Kindergeburtstag noch eine Schnitzeljagd durch den Wald planen?

Askani: Wissen Sie, wie laut Kinder kreischen? Was glauben Sie, was der Wolf in so einer Situation macht? (lacht) Im Ernst: Ich kenne die Beißkraft und Geschicklichkeit des Wolfes. Aber seit es nachweislich wieder Wölfe in Deutschland gibt, und das ist seit 1996, hat es keinen einzigen Unfall zwischen Mensch und Wolf gegeben. Mit anderen Wildtieren passiert alle zwei Minuten ein Straßenverkehrsunfall – oft mit schlimmen Folgen. Tendenz steigend. Viele Menschen messen hier mit zweierlei Maß. Es ist paradox.

v. Schenck: Natürlich können Sie das – wir informieren und beraten hierzu auch viele Waldkindergärten. Sicherlich lässt sich das Thema „Wolf“ auch gut spielerisch an Kinder vermitteln – wir haben hier sehr gute Erfahrungen gemacht, und es gibt auch schon einige Anbieter, die Touren für Groß und Klein in Wolfsgebieten anbieten.

Was kann denn tatsächlich schiefgehen mit dem neuen Nachbarn im Wald?

v. Schenck: Wir alle müssen den Umgang mit diesem faszinierenden Wildtier erst wieder lernen. Nur wenn uns das gelingt, hat der Wolf bei seiner Rückkehr nach Deutschland eine Chance. Hierzu muss jeder seinen Beitrag leisten, angefangen bei der Akzeptanz in der Bevölkerung über ein gutes Managementsystem bis hin zu ganz praktischen Möglichkeiten. Hierbei geht es beispielsweise um die Beratung von Nutztierhaltern, Bereitstellung von Herdenschutzpaketen und Fördermöglichkeiten von präventivem Herdenschutz.

Auch für den Wolf kann einiges schiefgehen: Die Zerschneidung der Landschaft und fehlende Querungsmöglichkeiten über Straßen und Eisenbahnschienen stellen eine große Gefahr für diese Tiere dar. In Deutschland sind bisher 54 Wölfe überfahren worden – allein in Schleswig-Holstein wurden drei Tiere Opfer einer Kollision mit einem Auto. Diese Gefahren gibt es allerdings für viele andere Wildtiere auch – Wölfe nehmen hier keine Sondersituation ein.

Askani: Der Wolf darf nicht angefüttert werden. Dann verliert er seine Fluchtdistanz, und dann kann es gefährlich werden. In einem Wolfsgebiet würde ich meinen Hund nicht ohne Aufsicht laufen lassen. Er kann als Eindringling angesehen werden – und wird wahrscheinlich verletzt oder getötet. Das ist so, als würde ein fremder Wolf ins Revier kommen.

Woher kommt bei uns Menschen die Angst vor dem Wolf?

Askani: Der Mensch hat es verlernt, mit großen Raubtieren zu leben. Wo Wölfe schon immer gelebt haben, kommt kein Schäfer auf die Idee, seine Herde ungesichert irgendwo laufen zu lassen.

v. Schenck: Hier muss man zurückgehen in eine Zeit, in der viele Märchen entstanden sind. Die Menschen lebten damals unter ganz anderen Bedingungen. Schweine wurden zur Eichelmast in den Wald getrieben, und angebundene Nutztiere waren für den Wolf leichte Beute. Schadenersatz für ein totes Tier oder die Möglichkeiten eines effektiven Herdenschutzes gab es damals nicht. Für die Menschen konnte der Verlust der einzigen Ziege die Existenz bedrohen – entsprechend groß war die Angst. Auch heutzutage müssen wir Ängste und Befürchtungen ernst nehmen, auf sachlicher Basis informieren und gemeinsam nach Lösungen suchen, die ein konfliktarmes Zusammenleben von Wolf und Mensch ermöglichen.

Und woher kommt die Faszination?

v. Schenck: Wölfe sind sehr intelligente Tiere mit erstaunlichen Fähigkeiten. Auch die Jagdmethoden sorgten bei unseren Vorfahren und besonders bei den Indianern in Nordamerika für Anerkennung und ein natürliches Miteinander von Wolf und Mensch.

Viele Menschen schätzen auch das Sozialverhalten der Wölfe, das weit vielschichtiger ist als die früher gängigen Studien über Alpha- und Omegawölfe in Gehegen dies vielleicht nahegelegt haben. Nicht zuletzt die enge Beziehung zu den Hunden in vielen deutschen Haushalten begründet das Interesse und die Faszination zu seinem wild lebenden Verwandten.

Askani: Als die Menschen von Afrika nach Europa kamen, waren sie und die Wölfe die einzigen Räuber, die Großbeute gejagt haben. Der Mensch hat vom Wolf gelernt. Genetisch ist er zwar dem Affen ähnlich, von den Familien- und Jagdstrukturen ähnelt er aber viel mehr dem Wolf.

Wolf und Mensch stehen zusammen als Fleischfresser an der Spitze der Nahrungspyramide, haben gleiche Territorien, und als Herdenbegleiter verfügen sie über gleiche Jagdtechniken und ernähren sich von gleichen Beutearten. Um erfolgreich zu sein, müssen beide ähnliche soziale Fähigkeiten und ein gut koordiniertes Teamwork entwickeln. Genetisch verwandte Primaten blieben dagegen in der Nahrungspyramide mit anderen Pflanzenfressern eine Stufe unter ihnen.

Am Ende der Eiszeit waren Menschen und Wölfe die einzigen Großwildjäger in der Tundra. Die große ökologische und soziale Ähnlichkeit dieser beiden Spezies hat vermutlich zu einer lang dauernden engen Beziehung geführt. Der DNA-Analyse nach leben Wölfe und Frühmenschen seit mehr als 5000 Generationen vor der Entstehung von Gesellschaften und Kulturen, die wir als zivilisiert bezeichnen, zusammen. Irgendwann schlossen sich Wölfe und Menschen noch enger zusammen.

Interessiert sich der Wolf denn überhaupt für den Menschen?

Askani:

Nein. Der Mensch ist keine Beute für den Wolf.

V. Schenck:

Auf seiner Speisekarte steht der Mensch nicht – der Wolf interessiert sich eher dafür, wo sich Menschen aufhalten, um ihnen möglichst aus dem Weg zu gehen.