Neuer Ansatz in der Medizin: Die schnelle Auswertung großer Datenmengen verspricht bessere Therapien, wirft aber auch grundsätzliche Fragen auf

Hamburg. Doktor Watson trägt keinen weißen Kittel, auch Medizin hat er nie studiert. Trotzdem gilt er als verheißungsvoller Vorbote einer medizinischen Revolution. Watson ist kein Wunderheiler, sondern viel mehr eine intelligente Suchsoftware aus dem Hause IBM, die auf einem Verbund aus 90 Großrechnern läuft. Die wichtigste Eigenschaft des Systems: Es kann riesige Datenmengen schnell analysieren.

Am renommierten Memorial Sloan Kettering Cancer Center in New York wird diese „Big Data“-Analyse seit einigen Monaten bei der Krebs-Diagnose eingesetzt. Ein schwieriges Gebiet, kein Tumor gleicht dem anderen. Eine passende Therapie zu finden, erfordert vom behandelnden Onkologen viel Erfahrung und Fachwissen. Dieses verdoppelt sich schätzungsweise alle fünf Jahre. Auf dem neusten Forschungsstand zu bleiben, ist selbst für engagierte Mediziner fast unmöglich. „Ein schneller und zuverlässiger Zugriff auf dieses Wissen wäre im Klinikalltag hilfreich, gerade bei unklaren Symptomen und schwierigen Diagnosen“, sagt Dr. Axel Stang, Chefarzt für Onkologie und Palliativmedizin in der Asklepios Klinik Barmbek.

Ist sich der Mediziner heute bei einem Patienten unsicher, muss er sich auf die Suche nach Anhaltspunkten in der Literatur machen und Tausende Fachartikel nach Hinweisen durchforsten. Dafür bleibt im Klinikalltag oft jedoch wenig Zeit. Hier kommt Watson ins Spiel. Ihre Suchanfragen an die Software könnten Ärzte per Tablet direkt am Krankenbett stellen. IBM will dafür mittelfristig seine Rechenkapazitäten per Webzugang zur Verfügung stellen. Dafür sollen in vielen Ländern eigene Watson-Computer aufgestellt werden.

„Innerhalb weniger Augenblicke könnte ein solcher Rechner eine Patientenakte mit unzähligen Fällen aus der Krebsforschung vergleichen und gezielte Fragen des Arztes nach möglichen Übereinstimmungen beantworten. Im Laufe der Zeit wächst das verfügbare Wissen durch immer neue Daten, dadurch steigt auch die Qualität der Antworten“, sagt Prof. Boris Tolg, Medizininformatiker an der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Im Moment liefert die medizinische Suchmaschine vor allem Vorschläge für mögliche Diagnosen und Behandlungen – sortiert nach ihrer Wahrscheinlichkeit.

Eine Arbeitserleichterung, aber kein Ersatz für die medizinische Sorgfalt. „Ohne eine gründliche Anamnese fehlen mir die entscheidenden Hinweise für meine Suchanfrage. Ohne umfangreiches Fachwissen kann ich die Diagnosevorschläge nicht ausreichend bewerten“, sagt Axel Stang. Gleichzeitig muss auch die Qualität der durchsuchten Daten stimmen. Eine große Datenmenge allein macht niemanden klug. Zu weit gefasstes Wissen oder ungenaue Angaben könnten den Arzt sogar in seiner Arbeit behindern. Nur Studien, die zu wissenschaftlich belastbaren Aussagen kommen und gut aufbereitete Daten sind aus Sicht von Stang eine wirkliche Hilfe für den Arzt und seine Patienten. Ganz auf die Datenanalyse verlassen, möchte sich der Onkologe ohnehin nicht: „Zu meiner Sorgfaltspflicht als Mediziner gehört es auch, die Studien hinter den Diagnosevorschlägen zu hinterfragen und zu prüfen.“

Andererseits bieten Big-Data-Analysen auch ganz neue Chancen für die Krebsforschung. Mit modernen Genanalysen können die Forscher inzwischen die verschiedenen Tumorarten und ihre Eigenschaften immer besser entschlüsseln und verstehen. Doch je genauer eine Krebserkrankung untersucht wird, desto größer ist die entstehende Datenmenge – im Durchschnitt sind es etwa 40 Gigabyte pro Patient. Zum Vergleich: Auf eine herkömmliche DVD passen 4,7 Gigabyte. Um solche Informationen auch in einem größeren Kontext zu verarbeiten – etwa für eine Studie oder den Vergleich von Krankenakten – sind schon die Algorithmen und Rechenkapazitäten eines „Supercomputers“ wie Watson nötig.

Die Vision aus moderner Genforschung und Big Data ist reizvoll: Krebspatienten könnten mit maßgeschneiderten Therapien behandelt werden, die Risikofaktoren berücksichtigt und Nebenwirkungen minimiert. Die intelligenten Algorithmen im Hintergrund berücksichtigen mehr Daten als je zuvor, Erbanlagen, Umwelteinflüsse und Lebensumstände. Ein Ansatz, der nicht nur schnellere Diagnosen liefern, sondern auch Behandlungsfehler reduzieren und unnötige Kosten durch wirkungslose Therapien senken könnte. Noch allerdings seien wir davon weit entfernt, sagt Asklepios-Arzt Axel Stang. „Die Tumor-Genanalyse steckt in den Kinderschuhen und aussagekräftige Studien über ihre klinische Bedeutung stehen noch aus.“

Patientendaten müssen verschlüsselt und anonymisiert werden

Um solche Big Data-Potentiale nutzen zu können, muss die Branche noch zwei andere Probleme zu lösen. Die erste offene Frage ist technischer Natur. Der täglich anfallende Datenberg im Gesundheitssektor ist nicht nur immens groß – allein in den USA entstehen pro Tag etwa 15 Petabyte – sondern auch sehr heterogen. Die IT-Infrastruktur eines herkömmlichen Krankenhauses gleicht einem Flickenteppich aus Softwareanwendungen. 50 bis 70 verschiedene Programme sind keine Seltenheit. Laborwerte, Röntgenbilder, CT-Aufnahmen und die Angaben zur Medikation werden in verschiedenen Datenformaten gespeichert und lassen sich oft nur mühsam zusammenführen. Dazu kommen noch externe Daten aus medizinischen Studien und von Hausärzten. Gemeinsame Datenstandards sind deshalb in Zukunft unerlässlich.

„Die zweite Herausforderung besteht darin, all diese persönlichen Informationen vor unbefugtem Zugriff zu schützen“, erklärt Informatiker Boris Tolg. Bei Suchanfragen müssen die Patientendaten so verschlüsselt und anonymisiert werden, dass sich keine Rückschlüsse auf die Identität der Patienten ziehen lassen. Computerexperten wie Björn Menze von der TU München halten es für möglich, schon aus Magnetresonanz und CT-Bildern die Gesichter von Patienten zu rekonstruieren.

Noch heikler ist der Umgang mit den genetischen Informationen der Krebspatienten. Die digitalen Schutzmauern müssen deshalb deutlich sicherer werden, gerade wenn medizinische Einrichtungen ihre Daten in der Cloud speichern. Auch vor einem drohenden Ausverkauf der Daten warnen Skeptiker. Für Versicherungen, Medizintechnik-Unternehmen oder Pharmakonzerne hätten diese Daten großen Wert, genau wie für Arbeitgeber.

Die Antworten auf solche Fragen dürfen aber nicht nur von Informatikern oder Medizinern kommen. Auch die Patienten müssen sich beteiligen. „Wir brauchen dringend einen gesellschaftlichen Diskurs über die Nutzung und den Schutz von medizinischen Daten“, sagt Tolg. Auch wenn Big Data kein Allheilmittel sei, werde die Technologie die medizinische Landschaft in den nächsten Jahren stärk verändern.