Unterwerfung bis hin zur Sympathie – eine US-Evolutionspsychologin hat untersucht, wie Opfer mit ihrem Schicksal zurechtkommen

Eugene. Für die alten Römer war der Fall klar: Weil in ihrer Stadt kurz nach der Gründung akuter Frauenmangel herrschte, zogen die Männer ins Gebiet der benachbarten Sabiner und raubten alle Jungfrauen. Als deren Verwandte bald mit einem großen Heer vor der Stadt erschienen, sollen die Sabinerinnen sie angefleht haben, den Rachefeldzug aufzugeben. Die Frauen hatten sich mit ihren Entführern arrangiert und waren die Ehe mit ihnen eingegangen. Die Liebe, so die Botschaft des Mythos, löste auch dieses Problem.

So einfach ist es wohl kaum. Die Mädchen und Frauen, die muslimische Terroristen derzeit in Afrika oder im Nahen Osten in ihre Gewalt bringen, um sie an Gesinnungsgenossen weiterzureichen oder an Interessenten meistbietend zu verkaufen, werden kaum in Liebe zu ihren Peinigern entbrennen. Allein im Irak sollen mehrere Tausend jesidische Frauen unter 35 Jahren von IS-Kämpfern gefangen und verschleppt worden sein. Die Terroristen verweisen auf das Vorbild des Propheten Mohammed, der auf seinen Kriegszügen vier Fünftel der menschlichen Beute seinen Kriegern zugesprochen habe, der Rest sei an den Staat gegangen. So will es auch der IS halten, gab er auf seinem Propaganda-Pamphlet bekannt.

Die Frauen dienen als Haushaltshilfen oder Sexsklavinnen. Ein ähnliches Schicksal haben die islamistischen Terroristen von Boko Haram Hunderten Mädchen zugedacht, die sie auf ihren Beutezügen in Nigeria entführten. Sie werden als Sklavinnen verkauft.

Wie können Frauen ein solches Martyrium ertragen, dem sie – historisch betrachtet – über Jahrtausende hinweg immer wieder ausgeliefert gewesen sind? Bis in die Kriege der europäischen Neuzeit hinein haben die Sieger ihre (männlichen) Feinde gern zum Tode verurteilt oder gleich hingemetzelt, während die Frauen und Kinder zur beweglichen Beute wurden. Auch wenn einige Fälle von weiblichem Massensuizid überliefert sind, muss man davon ausgehen, dass die Opfer sich irgendwann mit der Situation arrangiert haben. Um weiterzuleben.

Michelle Scalise Sugiyama, Evolutionspsychologin an der Universität des US-Bundesstaates Oregon in Eugene, hat dazu eine verblüffende Erklärung formuliert: Aus ihrer langen Erfahrung als Opfer hätten unsere weiblichen Vorfahren zum Schutz für sich selbst und ihren Nachwuchs spezielle Überlebensstrategien entwickelt, die sie als Verhaltensmuster von Generation zu Generation weitergereicht hätten. Sugiyama entwickelte ihre These, die jetzt in der Zeitschrift „Human Nature“ erschien, aus der Analyse überlieferter Konfliktsituationen, die sich in den Erzählungen von nordamerikanischen Indianerstämmen, arktischen Inuit, australischen Aborigines und südafrikanischen San finden.

Die Psychologin nahm 45 Jäger und Sammlergesellschaften unter die Lupe. Dabei stellte sie fest, dass fünf für Frauen existenzielle Situationen in den Überlieferungen aller Gruppen auftreten: der Tod der Frau, ihre Gefangennahme, die Ermordung ihrer Kinder, die Ermordung oder Gefangennahme ihres Partners oder eines erwachsenen männlichen Verwandten. In diesen fünf Fällen, die ihre Existenz und die ihres Nachwuchses bedrohten, mussten Frauen einen substanziellen Preis zahlen. Fitnesskosten, nennt ihn Michelle Scalise Sugiyama.

Um diese Fitnesskosten begleichen zu können, hätten Frauen spezielle Strategien entwickelt, um ihre Überlebens- und Reproduktionschancen zu wahren oder sogar zu erhöhen. Dazu gehörte die Analyse des Verhaltens der feindlichen Krieger. Waren sie auf Vernichtung aus oder würden sie sich mit der Gefangennahme zufrieden geben? Um einzuschätzen zu können, ob Widerstand oder Gefügigkeit die bessere Taktik war, mussten die Frauen über einiges Wissen verfügen, darunter auch Informationen zur Kriegführung des Feindes und wie dieser mit seinen Gefangenen umging.

Aus dieser Überlebensstrategie sei auch das sogenannte Stockholm-Syndrom erwachsen, das im August 1973 durch ein spektakuläres Verbrechen in der schwedischen Hauptstadt bekannt wurde: Gangster hatten mehrere Geiseln über fünf Tage hinweg in einer Bank gefangen gehalten. Als die Geiselnehmer aufgaben, waren es ausgerechnet ihre Opfer, die sich schützend vor sie stellten und um Gnade für ihre Unterdrücker baten.

Man hat dieses Verhaltensmuster mit einem irrationalen Gefühl der Dankbarkeit gegenüber den Peinigern erklärt, die Geiseln am Leben zu lassen, mit dem Ringen um Zuneigung der Geiselnehmer oder Identifikation mit ihrem Unternehmen, um der eigenen Hilflosigkeit eine Alternative entgegenzusetzen. Auch im Fall der Wienerin Natascha Kampusch, die von 1998 bis 2006 in der Gewalt ihres Entführers lebte, wurde das Stockholm-Syndrom als Erklärungsmuster ins Spiel gebracht.

Der Pakt einer Geisel mit einem Geiselnehmer könnte seine Wurzeln im Leben unserer weiblichen Vorfahren haben, vermutet Michelle Scalise Sugiyama. Denn die Rahmenbedingungen – Haft und Missbrauch – waren bei Jäger und Sammlergesellschaften an der Tagesordnung. Das Bündnis mit den Feinden könnte für die Gefangenen ein Weg gewesen sein, sich mit ihnen zu identifizieren und sich schließlich in ihr neues soziales Umfeld zu integrieren. Um ihre Überlebenschance zu wahren, akzeptierten die Frauen die Situation und gaben ihren Widerstand auf.

Ob solche Erfahrungen wirklich Eingang in die kognitive Entwicklung des weiblichen Homo sapiens finden konnten, müssen wohl weitere Untersuchungen klären. Ob sie den Frauen in der Gewalt islamistischer Terroristen helfen können, ist eine akademische Frage: Sie sind Opfer eines Verbrechens, dem es zu wehren gilt.